Rezension: Franziska Porsch
Wie eine Person zu einem Nutzer wurde
FEB 2022
So verheißungsvoll lautet der Untertitel („How a Person Became a User“) von „Lurking“, dem Erstlingswerk der US-amerikanischen Journalistin und Kunstkritikerin Joanne McNeil. Verheißungsvoll zumindest für jemanden wie mich, der seit geraumer Zeit den Titel User Experience (UX) Designer trägt und sich ab und zu fragt, was es überhaupt bedeutet, wenn die, für die ich gestalte, als Nutzer:innen bezeichnet werden. (Die Diskussion darüber, ob Nutzer:in die adäquate Übersetzung von User ins Deutsche ist, lasse ich an dieser Stelle außen vor.) Doch die Frage, wie denn nun aus Personen sogenannte Nutzer:innen werden, findet in diesem Buch zu meinem Bedauern keine hinreichende Beantwortung. Während ich eine Art techniksoziologische Abhandlung zum Verhältnis von Mensch und (Personal) Computer erwartet habe, wird die Geschichte des Internets und seiner Kultur aus der persönlichen Sicht einer extensiven Nutzerin dieser Technologie geschildert. Ich muss im Nachhinein zugeben, dass der Werbeblock aus zitierten Rezensionen am Anfang des Buchs bereits darauf hingedeutet hat: sie attestieren McNeil, die üblichen technischen Perspektiven auf das Internet endlich um die menschliche ergänzt zu haben. Dementsprechend liest sich ihr Werk als eine Mischung aus Tagebucheintrag, phänomenologischer Beschreibung und recherchierter Meinungsäußerung. Ihr Ton ist offenherzig und vertrauensvoll, Ausgangspunkt für ihre Überlegungen sind meistens eigene Erlebnisse, welche sie erzählerisch zu verpacken weiß.
Damit liefert sie etwas, das sich alle UX Designer:innen eigentlich wünschen: einen tiefen Einblick in das, was Nutzer:innen erfahren, was sie dabei denken und wie sie sich dabei fühlen – normalerweise, um die genutzte (digitale) Anwendung zu verbessern und auf die Nutzerbedürfnisse abzustimmen. In Bezug auf das Internet als Gesamtkonstrukt erstmal ein unüberschaubares Unterfangen, aber McNeil gibt Hinweise. Zum einen, indem sie die Entwicklung des Internets von seinen Anfängen bis heute kritisch betrachtet. Im ersten Kapitel „Search“ beispielsweise beschreibt sie, wie Suchmaschinen zwar immer noch ein sehr grundsätzliches Bedürfnis befriedigen – Informationen zu finden–, aber im Laufe der Zeit die Art und Weise, wie wir suchen, verändert haben und auch in hohem Maße bestimmen, was wir finden und was nicht. Zum anderen widmet sie den Themen, die aus ihrer Sicht unsere Erfahrungen im Internet strukturieren, eigene Kapitel wie „Anonymity“, „Visibility“, „Community“ und „Accountability“. Während zum Beispiel anfangs die eigene Internet-Identität mit einem selbstgewählten Nutzername auskam, verlangt heute fast jede Plattform, dass sich Nutzer:innen, um sie nutzen zu dürfen, mit ihrem echten Namen registrieren und damit ihre reale Identität preisgeben. Für derartige Entwicklungen macht sie die dahinterstehenden Konzerne verantwortlich, an denen sie kein gutes Wort lässt („I hate [Facebook]. The company is one of the biggest mistakes in modern history […]“, S. 221). Trotz der oftmals emotional eingefärbten Darstellungen sind es doch diese Abschnitte über die Facebooks, Googles und Amazons, die erahnen lassen, wann aus Personen Nutzer:innen werden. Nämlich dann, wenn das, was uns als Person ausmacht, kommodifiziert wird, einen Preis bekommt und verkauft werden kann.
Auch wenn die Kommerzialisierung des Internets Anfang der 1990er-Jahre in den gleichen Zeitraum fällt wie Don Normans erstmalige Verwendung des Begriffs User Experience, ist das für mich kein ausreichender Grund, die Bedeutung von „Nutzer:in“ auf Personen zu beschränken, die sich durch die Nutzung von Produkten in eine wirtschaftliche Beziehung zu den dahinterstehenden Unternehmen begeben – auf jeden Fall nicht ausschließlich. Denn McNeil selbst verweist in ihrer Einleitung, leider nur sehr kurz, auf einen weiteren Aspekt, der Personen zu Nutzer:innen macht: Nutzer:innen steht ein technisches Artefakt, ein System, ein Interface gegenüber, das, von anderen geschaffen, ihnen nur die bloße Nutzung dessen gestattet. Und wer schafft diese Systeme? Entwickler:innen, lautet die Antwort von McNeil in Referenz zu einem sehr lesenswerten Artikel von Olia Lialina. Auch das scheint mir deutlich zu kurz gegriffen, denn auch wenn es immer noch viele Systeme und Interfaces gibt, die nur von Entwickler:innen umgesetzt werden, sind es doch Designer:innen, die dafür sorgen, dass Systeme nutzerzentriert gestaltet sind. Welchen Unterschied macht es aber, wenn ich für Nutzer:innen und nicht für Personen gestalte? Macht es einen? Und würde das Austauschen eines Begriffs tatsächlich das Machtverhältnis auflösen können, das zwischen denen besteht, die ein Objekt gestalten, und denen die dieses Objekt so nutzen müssen, wie es ist? McNeils Buch hat es also geschafft, all diese Fragen aufzuwerfen. Eine weiterführende Beantwortung müssen andere Texte übernehmen.
BODY OF KNOWLEDGE
Die Website der Buchautorin
→ joannemcneil.com
Wer sich gefragt hat, was Lurking eigentlich heißt
→ de.wikipedia.org/wiki/Lurker
Mehr zum Hintergrund der Kommerzialisierung des Internets
→ heise.de
Der Artikel von Olia Lialina
→ contemporary-home-computing.org
Weiterführende Texte, die die aufgeworfenen Fragen vielleicht zu beantworten wissen
→ interfacecritique.net
Rezension: Franziska Porsch
Wie eine Person zu einem Nutzer wurde
FEB 2022
So verheißungsvoll lautet der Untertitel („How a Person Became a User“) von „Lurking“, dem Erstlingswerk der US-amerikanischen Journalistin und Kunstkritikerin Joanne McNeil. Verheißungsvoll zumindest für jemanden wie mich, der seit geraumer Zeit den Titel User Experience (UX) Designer trägt und sich ab und zu fragt, was es überhaupt bedeutet, wenn die, für die ich gestalte, als Nutzer:innen bezeichnet werden. (Die Diskussion darüber, ob Nutzer:in die adäquate Übersetzung von User ins Deutsche ist, lasse ich an dieser Stelle außen vor.) Doch die Frage, wie denn nun aus Personen sogenannte Nutzer:innen werden, findet in diesem Buch zu meinem Bedauern keine hinreichende Beantwortung. Während ich eine Art techniksoziologische Abhandlung zum Verhältnis von Mensch und (Personal) Computer erwartet habe, wird die Geschichte des Internets und seiner Kultur aus der persönlichen Sicht einer extensiven Nutzerin dieser Technologie geschildert. Ich muss im Nachhinein zugeben, dass der Werbeblock aus zitierten Rezensionen am Anfang des Buchs bereits darauf hingedeutet hat: sie attestieren McNeil, die üblichen technischen Perspektiven auf das Internet endlich um die menschliche ergänzt zu haben. Dementsprechend liest sich ihr Werk als eine Mischung aus Tagebucheintrag, phänomenologischer Beschreibung und recherchierter Meinungsäußerung. Ihr Ton ist offenherzig und vertrauensvoll, Ausgangspunkt für ihre Überlegungen sind meistens eigene Erlebnisse, welche sie erzählerisch zu verpacken weiß.
Damit liefert sie etwas, das sich alle UX Designer:innen eigentlich wünschen: einen tiefen Einblick in das, was Nutzer:innen erfahren, was sie dabei denken und wie sie sich dabei fühlen – normalerweise, um die genutzte (digitale) Anwendung zu verbessern und auf die Nutzerbedürfnisse abzustimmen. In Bezug auf das Internet als Gesamtkonstrukt erstmal ein unüberschaubares Unterfangen, aber McNeil gibt Hinweise. Zum einen, indem sie die Entwicklung des Internets von seinen Anfängen bis heute kritisch betrachtet. Im ersten Kapitel „Search“ beispielsweise beschreibt sie, wie Suchmaschinen zwar immer noch ein sehr grundsätzliches Bedürfnis befriedigen – Informationen zu finden–, aber im Laufe der Zeit die Art und Weise, wie wir suchen, verändert haben und auch in hohem Maße bestimmen, was wir finden und was nicht. Zum anderen widmet sie den Themen, die aus ihrer Sicht unsere Erfahrungen im Internet strukturieren, eigene Kapitel wie „Anonymity“, „Visibility“, „Community“ und „Accountability“. Während zum Beispiel anfangs die eigene Internet-Identität mit einem selbstgewählten Nutzername auskam, verlangt heute fast jede Plattform, dass sich Nutzer:innen, um sie nutzen zu dürfen, mit ihrem echten Namen registrieren und damit ihre reale Identität preisgeben. Für derartige Entwicklungen macht sie die dahinterstehenden Konzerne verantwortlich, an denen sie kein gutes Wort lässt („I hate [Facebook]. The company is one of the biggest mistakes in modern history […]“, S. 221). Trotz der oftmals emotional eingefärbten Darstellungen sind es doch diese Abschnitte über die Facebooks, Googles und Amazons, die erahnen lassen, wann aus Personen Nutzer:innen werden. Nämlich dann, wenn das, was uns als Person ausmacht, kommodifiziert wird, einen Preis bekommt und verkauft werden kann.
Auch wenn die Kommerzialisierung des Internets Anfang der 1990er-Jahre in den gleichen Zeitraum fällt wie Don Normans erstmalige Verwendung des Begriffs User Experience, ist das für mich kein ausreichender Grund, die Bedeutung von „Nutzer:in“ auf Personen zu beschränken, die sich durch die Nutzung von Produkten in eine wirtschaftliche Beziehung zu den dahinterstehenden Unternehmen begeben – auf jeden Fall nicht ausschließlich. Denn McNeil selbst verweist in ihrer Einleitung, leider nur sehr kurz, auf einen weiteren Aspekt, der Personen zu Nutzer:innen macht: Nutzer:innen steht ein technisches Artefakt, ein System, ein Interface gegenüber, das, von anderen geschaffen, ihnen nur die bloße Nutzung dessen gestattet. Und wer schafft diese Systeme? Entwickler:innen, lautet die Antwort von McNeil in Referenz zu einem sehr lesenswerten Artikel von Olia Lialina. Auch das scheint mir deutlich zu kurz gegriffen, denn auch wenn es immer noch viele Systeme und Interfaces gibt, die nur von Entwickler:innen umgesetzt werden, sind es doch Designer:innen, die dafür sorgen, dass Systeme nutzerzentriert gestaltet sind. Welchen Unterschied macht es aber, wenn ich für Nutzer:innen und nicht für Personen gestalte? Macht es einen? Und würde das Austauschen eines Begriffs tatsächlich das Machtverhältnis auflösen können, das zwischen denen besteht, die ein Objekt gestalten, und denen die dieses Objekt so nutzen müssen, wie es ist? McNeils Buch hat es also geschafft, all diese Fragen aufzuwerfen. Eine weiterführende Beantwortung müssen andere Texte übernehmen.
BODY OF KNOWLEDGE
Die Website der Buchautorin
→ joannemcneil.com
Wer sich gefragt hat, was Lurking eigentlich heißt
→ de.wikipedia.org/wiki/Lurker
Mehr zum Hintergrund der Kommerzialisierung des Internets
→ heise.de
Der Artikel von Olia Lialina
→ contemporary-home-computing.org
Weiterführende Texte, die die aufgeworfenen Fragen vielleicht zu beantworten wissen
→ interfacecritique.net
ABOUT US GESTALT ERROR 409
ILLUSTRATION In Design Limbo Pt.3 Mira Schleinig
BEOBACHTUNG Erfahrungsbericht VW in Wolfsburg 409
USE »Atemberaubend, oder?« Eine Apple Vision Pro Rezension Jakob Nonnen
ESSAY Extended Creativity: a Human Centered Approach to Working with AI Felix Dölker
USE The Curious Case of the TrackPoint ChatGPT & Sabeth Wiese
INTERVIEW Fünf Fragen zu Bibliothekspflanzen Anne Christensen
INTERVIEW Über Theorie und Praxis Prof. Dr. Felix Kosok
USE Traumreise in die Unterwelt Sabeth Wiese
BEOBACHTUNG Erfahrungsbericht Bauhaus Dessau 409
INTERVIEW Fünf Fragen zu Symbiosis – Living together Carl F. Then
INTERVIEW Five Questions on the University of Brighton Design Archives Sue Breakell
READ Backstage Talks Magazine Sabeth Wiese
ESSAY Zu Design und Utopie. Ein essayistisches Plädoyer Fabio Sacher
PROJEKT About Kreativbranche II: unglitched but shit Sabeth Wiese
PROJEKT Scherben Sammeln? Mudlarking Charlotte Bluhme
INTERVIEW Über die Grenzen des Designs Constanze Buckenlei und Marco Kellhammer
BEOBACHTUNG Eva Illouz und die Wurzeln der Experience Sabeth Wiese
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INTERVIEW About Design at Olivetti Pietro Cesari
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BEOBACHTUNG Erfahrungsbericht Vitra Campus 409
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INTERVIEW Fünf Fragen zu Designmanifesten Prof. Dr. Daniel Hornuff
ZITATE Designliteratur in Zitaten 409
PROJEKT GELD GELD GELD Sabeth Wiese
ILLUSTRATION In Design Limbo Pt.2 Mira Schleinig
WATCH Design is [messy] Carl F. Then
PROJEKT Umwandlungen. Gestaltung mit einem Insekt Simon Schmalhorst
INTERVIEW Über Designliteratur Helge Aszmoneit
READ Wie eine Person zu einem Nutzer wurde Franziska Porsch
PROJEKT Glitched about Kreativbranche Sabeth Wiese
ILLLUSTRATION In Design Limbo Pt.1 Mira Schleinig
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