Beobachtung: Carl Friedrich Then, Sabeth Wiese, Franziska Porsch
Erfahrungsbericht Vitra Campus
NOV 2022
Seit 1950 produziert Vitra seine Möbel in Weil am Rhein. Das Gelände ist besser bekannt als Vitra Campus und umfasst neben den Produktionshallen auch das VitraHaus, das Vitra Design Museum und das Vitra Schaudepot. In dieser Kombination präsentiert es sich geschickt als Kultur- statt Industrieareal. Dabei ist Vitra auch über die Grenzen der Designwelt hinaus ein Begriff. Nicht nur Designkenner und -sammler wissen, was Vitra ist und welche ikonischen Produkte das Schweizer Unternehmen vertreibt, sondern auch ästhetisch geneigte Menschen kaufen gerne Vitra-Produkte – vorausgesetzt sie haben das nötige Kleingeld.
An einem sonnigen Maiwochenende haben wir uns auf den Weg gemacht um herauszufinden, was es mit dem Vitra Campus auf sich hat und wie sich eines der größten und bekanntesten Designunternehmen der Welt in Szene setzt. Wir verbringen einen ganzen Tag auf dem Gelände: in Führungen, lustwandelnd, schauend und erschöpft im Gras liegend.
Vitra Campus: Kommerz, Kultur oder beides?
Als wir im Mai diesen Jahres nach Weil am Rhein reisen, stellen wir uns vor allem die Frage, was es mit dem Vitra Campus auf sich hat – geht es Vitra wirklich um Kultur, geht es schlicht um extrem geschicktes Marketing oder etwas uns unbekanntes drittes? Schließlich handelt es sich nicht einfach um ein schnödes Werksgelände, sondern um einen international bekannten von zahlreichen Star-Architekten gestalteten Firmensitz, der explizit auch für die Öffentlichkeit bestimmt ist. Unsere ersten Eindrücke vom Campus bekommen wir in der Architekturführung. Insbesondere die von Álvaro Siza oder dem japanischen Architekturbüro SANAA konzipierten Gebäude sind eindrückliche Beispiele dafür, wie Fabriken und Lagerhallen aussehen können, wenn Funktion und Ästhetik Hand in Hand gehen. Beeindruckt sind wir von Vitras Fähigkeit und markenstrategischer Weitsicht Architekt:innen wie Zaha Hadid Freiräume zu geben, in denen sie zugunsten konzeptueller und ästhetischer Kompromisslosigkeit die Grenzen des Pragmatischen austesten. Nach der wirklich faszinierenden Architekturführung durch verschiedene Produktionshallen, nähern wir uns den Gebäuden, die einem breiteren Publikum offenstehen: dem VitraHaus, dem Vitra Design Museum und dem Schaudepot.
VitraHaus: Vitra in a Nutshell
Das VitraHaus begrüßt Besucher:innen mit einer vielsagenden Kombination aus Restaurant und kleinem Shop. Schon diese Kombination gibt einen ersten Hinweis auf die vielschichtigen Ambiguitäten des Geländes. Das Gebäudeensemble spielt so gekonnt mit den Assoziationen an ein modernes Museum, dass es am Ende fast wirkt musealer an als das Vitra Design Museum selbst. Ebenfalls im Erdgeschoss befinden sich das Interior Studio und das Lounge Chair Atelier. Die Bezeichnungen sollen zeigen: hier geht es um Experience und Kreation und nicht um den Verkauf. Wobei natürlich klar ist, dass beides primär dazu gedacht ist, Kunden mit richtig Asche standesgemäß zu umgarnen. Arbeit, Aufwand und die daraus folgende Wertigkeit wollen nämlich entsprechend inszeniert sein.
Ist man nun in der richtigen Stimmung, geht es in den größten Teil des Gebäudes: den Showroom. In den zwölf gestapelten Hausprofilen von Herzog & de Meuron erwarten einen betont luftig und abwechslungsreich gestaltete Arrangements aus Möbeln und Pflanzen vor riesigen Fensterflächen. Man fühlt sich, als würde man durch ein real gewordenes Moodboard wandeln. Dabei entsteht aber eine eigenartige Verkehrung dessen, was man eigentlich erwarten würde: Denn der Showroom wirkt nicht wie ein Vorbild, von dem sich Pinterest-Nutzer:innen inspirieren lassen würden, sondern als hätte man die inhaltsleere Pinterest-Trostlosigkeit in die Wirklichkeit materialisiert.
Das höchste der Gefühle: ein Raum ist vollkommen in waldgrünen Teppich gekleidet, in der Mitte zwei bananenförmige Sofas in unterschiedlichen magenta-grün melierten Stoffen, dazu verchromte Tische und: die unvermeidbaren Monstera-Pflanzen. Auf einem Absatz an der Raumseite liegen die ebenfalls unvermeidlichen schicken Bücher. Die internetverwöhnte Welt ist Aufregenderes gewohnt.
Auch auffällig: Anders als die Wohnlandschaften von IKEA ist der Vitra-Showroom eine vollkommen ironiefreie Zone. Während bei IKEA das Plastikgemüse aus der Kinderabteilung die Küchen belebt, liegen in der Vitra-Küche Vermichelli, deren Verpackung sicherlich nicht nur einen Designpreis gewonnen hat. (Leider gibt es die nicht im Shop…) Auch seine Kunden nimmt Vitra schrecklich ernst. Irgendwo auf mittlerer Höhe des Gebäudes steht auf einer überdimensionierten Kücheninsel ein lebensgroßer Torso mit Sixpack aus Marmor, direkt gegenüber findet sich eine Großaufnahme venezianischer Kanäle in übersättigten Farben und dazwischen: ein beiges Ensemble aus Tisch und Stühlen. Nicht weit entfernt studiert ein gelecktes Yuppie-Pärchen aufmerksam die Stoffmuster an einem ebenfalls beigefarbenen Sessel… Während sich überall sonst auf dem Campus Vitra als Förderin neuer Ideen und kreativer Energie präsentiert, balanciert man hier opulent am Abgrund geistloser Biederkeit.
Davon abgesehen sind die meisten Räume wesentlich unspektakulärer. Dort lässt Vitra vor allem die wohlhabende Bildungsbürger-Kundschaft im eigenen Saft garen und präsentiert ihnen ebenso Gefälliges wie Geläufiges. Die Gläser? Von Iittala natürlich. Die Geschirrhandtücher? Marimekko ist doch so schön. Und darf es im Shop noch ein liebevoll illustriertes Pflanzen-Quartett sein? Oder ein paar schöne Kerzen?
Vor allem in dem Raum, in dem Vitra seinen Designikonen huldigt, muss man sich außerdem in einer Reaktion zwischen Trotz und Nostalgie fragen: Was hätten Ray und Charles eigentlich dazu gesagt? Ist der Plastic Chair nicht ein trauriger Zombie? Ein ursprünglich demokratischer Entwurf, der zum allgemeingültigen Distinktionsmerkmal geworden ist, um Wohlstand und Geschmack zu demonstrieren. Das VitraHaus wird zur Kulisse, in der man Lust auf eine Diskussion darüber bekommt, ob die IKEA-Kopie FANBYN für 79,99 Euro vielleicht originaler als das Vitra-Original des Plastic Chairs ist.
Auf der anderen Seite – und da wollen wir ganz ehrlich sein – ist es nicht unwahrscheinlich, dass aus uns auch der Neid der Besitzlosen spricht: der kleine Ärger als Designer:in in einem Designtempel Design zu begegnen, das man sich selbst nicht leisten kann und das man sich (könnte man es sich leisten) in die Wohnung stellen würde, obwohl man auf den Rest der Käuferschaft herabblickt. Wahrscheinlich ist das die Quintessenz des VitraHaus: in den zwölf gestapelten Räumen verliert man zuerst die Orientierung und wenn man herauskommt, weiß man irgendwann auch nicht mehr so genau, was man eigentlich fühlen soll (außer man ist neureich und hat eine Schwäche für beigefarbene Möbelstücke).
Vitra Design Museum: Klein aber gefällig
Bevor wir das Vitra Design Museum besuchten, haben wir im Rahmen der Architekturführung den wunderschönen Bau von Tadao Ando durchschritten, der etwas abgelegen auf dem Vitra-Gelände als Konferenzpavillon dient. Liebevoll zwischen Kirschbäume gesetzt, waren wir vor allem von der raffinierten Raumfolge und dem einfallenden Licht fasziniert – für uns auf jeden Fall ein Highlight. Von dort aus ging es ins Vitra Design Museum, was eben auch bedeutet, dass wir uns dem Gebäude von hinten näherten. Dabei fällt auf, dass der Bau deutlich von den Spuren des Alters gekennzeichnet ist, das Museum (verglichen zu seinem Ruf) wirkt irritierend klein und unspektakulär. Vor allem vor der Kulisse des restlichen Vitra Campus’ macht der Gehry-Bau einen fast schüchternen Eindruck, der am Ende auf die Ausstellung abfärbt: „Das soll es jetzt gewesen sein?“
Die Ausstellung „Plastik. Die Welt neu denken“ (26.03.-04.09.2022), die sich umfassend der Geschichte und Nutzung von Kunststoffen widmet, beginnt mit einem Rückblick. So werden zunächst die biologischen Vorläufer der Kunststoffe vorgestellt: Horn und Schildpatt, außerdem Kasein-Kunststoffe und das unvermeidliche Bakelit. Der nächste Raum spürt der euphorischen Phase nach: alles ist möglich, in Plastik wohnen, nie wieder Geschirr abspülen, ab heute leben wir Einweg! Im Obergeschoss beginnt die Suche nach neuen Antworten. Nett ist, wie Vitra sich selbst dabei fast ausklammert. Ansonsten fragt man sich, wie teure Rucksäcke aus Bananenfaser das Plastikproblem lösen sollen. Aber egal, schick sehen diese Experimente aus! Und viele sehr schöne Infografiken gibt es auch. Im Nebenbau kann man darüber hinaus noch mitmachen, da bekommt man alles, was man will.
Und am Ende ist es das: die Ausstellung ist ästhetisch gefällig, die anekdotische Herangehensweise unterhaltsam, zugänglich und erspart uns das große schlechte Gewissen. Aber sie erspart auch Vitra ein schlechtes Gewissen. Was natürlich stutzig macht. Denn sind Kunststoffe nicht elementarer Teil des Kerngeschäfts von Vitra? Oder haben wir da etwas übersehen?
Schaudepot: Amuse Gueule ohne Happy End
Im Vergleich zu dem ebenfalls von Herzog & de Meuron erbauten VitraHaus oder dem benachbarten Feuerwehrhaus von Zaha Hadid wirkt das Vitra Schaudepot geradezu bodenständig. Weit weg von wandelnden Geschmäckern und großen Gesten befindet sich hinter der heimeligen und doch irgendwie erschlagenden roten Backsteinfassade eine der größten Möbelsammlungen der Welt. Denn dort in den unterirdischen Räumlichkeiten verbirgt sich ein wahrer Schatz für Designer:innen und Design-Begeisterte, und zwar vor allem diejenigen, die sich für Designgeschichte und ihre Irrungen, Wirrungen und Errungenschaften interessieren. Einen Eindruck davon, wie historisch wertvoll diese Sammlung ist, vermittelt insbesondere die Dokumentation Vitra Chair Times, die jedem empfohlen sei, der sich für eben diese Designgeschichte interessiert.
Betritt man das Gebäude, findet sich erstmal eine Möglichkeit zu shoppen und quelle surprise: sie ist dem Shop im VitraHaus gar nicht unähnlich. Hier werden nur neben den Produkt-Souvenirs auch eine Reihe von Publikationen rund ums Design angeboten. Dahinter befindet sich die Dauerausstellung des Schaudepots. Diese ist zur Zeit unseres Besuchs nach den Farben der Möbel sortiert. Eine auf den ersten Blick ästhetisch gefällige Praxis, die sich seit Jahren in so manchem Wohn- oder Schreibzimmer wiederfindet. Ist dort die Entscheidung für die schöne Oberfläche gegenüber einer thematischen Sortierung durchaus zu verkraften, lässt sich im Schaudepot die Frage stellen, welchen Mehrwert diese Entscheidung bringt. Ohne Frage sieht diese Sortierung gefälliger aus, als die vormals historisch strukturierte, doch verliert man sich schnell in den Farben und Formen ohne zeitliche Orientierung. Wenig hilfreich ist da auch die dürftige Beschilderung der Exponate. Herauszufinden, welcher Infotext zu welchem Exponat denn nun eigentlich gehört, ermüdet und führt dazu, sich durch die farbenprächtige Ausstellung treiben zu lassen. Auch das muss nichts Schlechtes sein, wie das endlose Scrollen und Schauen von unterhaltsamen Clips auf TikTok und Instagram zeigt, und klar: andere Arrangements unter anderen Gesichtspunkten schaffen andere Sichtweisen und Synergien. Aber irgendwie bleiben intellektuelle Vertiefung und der unschuldige Durst nach Wissen auf der Strecke.
Überhaupt ist es angesichts der Fülle an vorhandener Designgeschichte irgendwie ernüchternd, wie wenig komplexes Wissen sich dort überhaupt aneignen lässt. Denn leider findet sich vor Ort keine – zumindest für uns einfach wahrnehmbare – Möglichkeit, sich tiefgründiger mit dem Reichtum der im Schaudepot versammelten Designgeschichte auseinanderzusetzen. So lässt sich quasi sinnbildlich im Keller durch große Glasscheiben nur ein sehnsüchtiger Blick auf die Schätze der Sammlung werfen. Eine Führung wäre sicherlich sinnvoll gewesen. Die dann hoffentlich einen ähnlichen Eindruck hinterlässt wie die sehenswerte Dokumentation Vitra Chair Times.
Man bleibt etwas ratlos zurück. Ohne Frage sind unter dem Namen Vitra herausragende Gestalter:innen und deren Designs und Entwürfe versammelt. Doch bleibt deren Erscheinung im Schaudepot eher flüchtig und in Anmutungen haften. In der Tiefe wird nicht klar, warum das alles so bedeutend und hochwertig ist, man ist dazu verdammt, der Inszenierung zu glauben – oder eben nicht.
Die Entscheidung darüber, welches Motiv Vitra mit dem Campus stärker verfolgt liegt wohl letztendlich im Auge des Betrachters: Ist es ein glaubwürdiger Bildungsauftrag oder schmückt sich Vitra primär mit der Geschichte des Designs, um Verkaufsförderung zu betreiben?
BODY OF KNOWLEDGE
Der Vitra Campus
„Das einzigartige Ensemble zeitgenössischer Architektur auf dem Vitra Campus vereint Produktionsstätte, Museen, Architektur und Inspiration für Ihr Zuhause. Viel Freude bei Ihrem Besuch.“
→ zur Website Vitra Campus
Vitra Chair Times
Die Doku ist auf diversen Kanälen bei Youtube verfügbar.
IKEA FANBYN Stuhl
Mateo Kries
Mateo Kries ist Kurator des Vitra Design Museums und mit 28.8K Followern sicherlich einer der größten deutschen „Design-Influencer“.
→ Instagram
Beobachtung: Carl Friedrich Then, Sabeth Wiese, Franziska Porsch
Erfahrungsbericht Vitra Campus
NOV 2022
Seit 1950 produziert Vitra seine Möbel in Weil am Rhein. Das Gelände ist besser bekannt als Vitra Campus und umfasst neben den Produktionshallen auch das VitraHaus, das Vitra Design Museum und das Vitra Schaudepot. In dieser Kombination präsentiert es sich geschickt als Kultur- statt Industrieareal. Dabei ist Vitra auch über die Grenzen der Designwelt hinaus ein Begriff. Nicht nur Designkenner und -sammler wissen, was Vitra ist und welche ikonischen Produkte das Schweizer Unternehmen vertreibt, sondern auch ästhetisch geneigte Menschen kaufen gerne Vitra-Produkte – vorausgesetzt sie haben das nötige Kleingeld.
An einem sonnigen Maiwochenende haben wir uns auf den Weg gemacht um herauszufinden, was es mit dem Vitra Campus auf sich hat und wie sich eines der größten und bekanntesten Designunternehmen der Welt in Szene setzt. Wir verbringen einen ganzen Tag auf dem Gelände: in Führungen, lustwandelnd, schauend und erschöpft im Gras liegend.
Vitra Campus: Kommerz, Kultur oder beides?
Als wir im Mai diesen Jahres nach Weil am Rhein reisen, stellen wir uns vor allem die Frage, was es mit dem Vitra Campus auf sich hat – geht es Vitra wirklich um Kultur, geht es schlicht um extrem geschicktes Marketing oder etwas uns unbekanntes drittes? Schließlich handelt es sich nicht einfach um ein schnödes Werksgelände, sondern um einen international bekannten von zahlreichen Star-Architekten gestalteten Firmensitz, der explizit auch für die Öffentlichkeit bestimmt ist. Unsere ersten Eindrücke vom Campus bekommen wir in der Architekturführung. Insbesondere die von Álvaro Siza oder dem japanischen Architekturbüro SANAA konzipierten Gebäude sind eindrückliche Beispiele dafür, wie Fabriken und Lagerhallen aussehen können, wenn Funktion und Ästhetik Hand in Hand gehen. Beeindruckt sind wir von Vitras Fähigkeit und markenstrategischer Weitsicht Architekt:innen wie Zaha Hadid Freiräume zu geben, in denen sie zugunsten konzeptueller und ästhetischer Kompromisslosigkeit die Grenzen des Pragmatischen austesten. Nach der wirklich faszinierenden Architekturführung durch verschiedene Produktionshallen, nähern wir uns den Gebäuden, die einem breiteren Publikum offenstehen: dem VitraHaus, dem Vitra Design Museum und dem Schaudepot.
VitraHaus: Vitra in a Nutshell
Das VitraHaus begrüßt Besucher:innen mit einer vielsagenden Kombination aus Restaurant und kleinem Shop. Schon diese Kombination gibt einen ersten Hinweis auf die vielschichtigen Ambiguitäten des Geländes. Das Gebäudeensemble spielt so gekonnt mit den Assoziationen an ein modernes Museum, dass es am Ende fast wirkt musealer an als das Vitra Design Museum selbst. Ebenfalls im Erdgeschoss befinden sich das Interior Studio und das Lounge Chair Atelier. Die Bezeichnungen sollen zeigen: hier geht es um Experience und Kreation und nicht um den Verkauf. Wobei natürlich klar ist, dass beides primär dazu gedacht ist, Kunden mit richtig Asche standesgemäß zu umgarnen. Arbeit, Aufwand und die daraus folgende Wertigkeit wollen nämlich entsprechend inszeniert sein.
Ist man nun in der richtigen Stimmung, geht es in den größten Teil des Gebäudes: den Showroom. In den zwölf gestapelten Hausprofilen von Herzog & de Meuron erwarten einen betont luftig und abwechslungsreich gestaltete Arrangements aus Möbeln und Pflanzen vor riesigen Fensterflächen. Man fühlt sich, als würde man durch ein real gewordenes Moodboard wandeln. Dabei entsteht aber eine eigenartige Verkehrung dessen, was man eigentlich erwarten würde: Denn der Showroom wirkt nicht wie ein Vorbild, von dem sich Pinterest-Nutzer:innen inspirieren lassen würden, sondern als hätte man die inhaltsleere Pinterest-Trostlosigkeit in die Wirklichkeit materialisiert.
Das höchste der Gefühle: ein Raum ist vollkommen in waldgrünen Teppich gekleidet, in der Mitte zwei bananenförmige Sofas in unterschiedlichen magenta-grün melierten Stoffen, dazu verchromte Tische und: die unvermeidbaren Monstera-Pflanzen. Auf einem Absatz an der Raumseite liegen die ebenfalls unvermeidlichen schicken Bücher. Die internetverwöhnte Welt ist Aufregenderes gewohnt.
Auch auffällig: Anders als die Wohnlandschaften von IKEA ist der Vitra-Showroom eine vollkommen ironiefreie Zone. Während bei IKEA das Plastikgemüse aus der Kinderabteilung die Küchen belebt, liegen in der Vitra-Küche Vermichelli, deren Verpackung sicherlich nicht nur einen Designpreis gewonnen hat. (Leider gibt es die nicht im Shop…) Auch seine Kunden nimmt Vitra schrecklich ernst. Irgendwo auf mittlerer Höhe des Gebäudes steht auf einer überdimensionierten Kücheninsel ein lebensgroßer Torso mit Sixpack aus Marmor, direkt gegenüber findet sich eine Großaufnahme venezianischer Kanäle in übersättigten Farben und dazwischen: ein beiges Ensemble aus Tisch und Stühlen. Nicht weit entfernt studiert ein gelecktes Yuppie-Pärchen aufmerksam die Stoffmuster an einem ebenfalls beigefarbenen Sessel… Während sich überall sonst auf dem Campus Vitra als Förderin neuer Ideen und kreativer Energie präsentiert, balanciert man hier opulent am Abgrund geistloser Biederkeit.
Davon abgesehen sind die meisten Räume wesentlich unspektakulärer. Dort lässt Vitra vor allem die wohlhabende Bildungsbürger-Kundschaft im eigenen Saft garen und präsentiert ihnen ebenso Gefälliges wie Geläufiges. Die Gläser? Von Iittala natürlich. Die Geschirrhandtücher? Marimekko ist doch so schön. Und darf es im Shop noch ein liebevoll illustriertes Pflanzen-Quartett sein? Oder ein paar schöne Kerzen?
Vor allem in dem Raum, in dem Vitra seinen Designikonen huldigt, muss man sich außerdem in einer Reaktion zwischen Trotz und Nostalgie fragen: Was hätten Ray und Charles eigentlich dazu gesagt? Ist der Plastic Chair nicht ein trauriger Zombie? Ein ursprünglich demokratischer Entwurf, der zum allgemeingültigen Distinktionsmerkmal geworden ist, um Wohlstand und Geschmack zu demonstrieren. Das VitraHaus wird zur Kulisse, in der man Lust auf eine Diskussion darüber bekommt, ob die IKEA-Kopie FANBYN für 79,99 Euro vielleicht originaler als das Vitra-Original des Plastic Chairs ist.
Auf der anderen Seite – und da wollen wir ganz ehrlich sein – ist es nicht unwahrscheinlich, dass aus uns auch der Neid der Besitzlosen spricht: der kleine Ärger als Designer:in in einem Designtempel Design zu begegnen, das man sich selbst nicht leisten kann und das man sich (könnte man es sich leisten) in die Wohnung stellen würde, obwohl man auf den Rest der Käuferschaft herabblickt. Wahrscheinlich ist das die Quintessenz des VitraHaus: in den zwölf gestapelten Räumen verliert man zuerst die Orientierung und wenn man herauskommt, weiß man irgendwann auch nicht mehr so genau, was man eigentlich fühlen soll (außer man ist neureich und hat eine Schwäche für beigefarbene Möbelstücke).
Vitra Design Museum: Klein aber gefällig
Bevor wir das Vitra Design Museum besuchten, haben wir im Rahmen der Architekturführung den wunderschönen Bau von Tadao Ando durchschritten, der etwas abgelegen auf dem Vitra-Gelände als Konferenzpavillon dient. Liebevoll zwischen Kirschbäume gesetzt, waren wir vor allem von der raffinierten Raumfolge und dem einfallenden Licht fasziniert – für uns auf jeden Fall ein Highlight. Von dort aus ging es ins Vitra Design Museum, was eben auch bedeutet, dass wir uns dem Gebäude von hinten näherten. Dabei fällt auf, dass der Bau deutlich von den Spuren des Alters gekennzeichnet ist, das Museum (verglichen zu seinem Ruf) wirkt irritierend klein und unspektakulär. Vor allem vor der Kulisse des restlichen Vitra Campus’ macht der Gehry-Bau einen fast schüchternen Eindruck, der am Ende auf die Ausstellung abfärbt: „Das soll es jetzt gewesen sein?“
Die Ausstellung „Plastik. Die Welt neu denken“ (26.03.-04.09.2022), die sich umfassend der Geschichte und Nutzung von Kunststoffen widmet, beginnt mit einem Rückblick. So werden zunächst die biologischen Vorläufer der Kunststoffe vorgestellt: Horn und Schildpatt, außerdem Kasein-Kunststoffe und das unvermeidliche Bakelit. Der nächste Raum spürt der euphorischen Phase nach: alles ist möglich, in Plastik wohnen, nie wieder Geschirr abspülen, ab heute leben wir Einweg! Im Obergeschoss beginnt die Suche nach neuen Antworten. Nett ist, wie Vitra sich selbst dabei fast ausklammert. Ansonsten fragt man sich, wie teure Rucksäcke aus Bananenfaser das Plastikproblem lösen sollen. Aber egal, schick sehen diese Experimente aus! Und viele sehr schöne Infografiken gibt es auch. Im Nebenbau kann man darüber hinaus noch mitmachen, da bekommt man alles, was man will.
Und am Ende ist es das: die Ausstellung ist ästhetisch gefällig, die anekdotische Herangehensweise unterhaltsam, zugänglich und erspart uns das große schlechte Gewissen. Aber sie erspart auch Vitra ein schlechtes Gewissen. Was natürlich stutzig macht. Denn sind Kunststoffe nicht elementarer Teil des Kerngeschäfts von Vitra? Oder haben wir da etwas übersehen?
Schaudepot: Amuse Gueule ohne Happy End
Im Vergleich zu dem ebenfalls von Herzog & de Meuron erbauten VitraHaus oder dem benachbarten Feuerwehrhaus von Zaha Hadid wirkt das Vitra Schaudepot geradezu bodenständig. Weit weg von wandelnden Geschmäckern und großen Gesten befindet sich hinter der heimeligen und doch irgendwie erschlagenden roten Backsteinfassade eine der größten Möbelsammlungen der Welt. Denn dort in den unterirdischen Räumlichkeiten verbirgt sich ein wahrer Schatz für Designer:innen und Design-Begeisterte, und zwar vor allem diejenigen, die sich für Designgeschichte und ihre Irrungen, Wirrungen und Errungenschaften interessieren. Einen Eindruck davon, wie historisch wertvoll diese Sammlung ist, vermittelt insbesondere die Dokumentation Vitra Chair Times, die jedem empfohlen sei, der sich für eben diese Designgeschichte interessiert.
Betritt man das Gebäude, findet sich erstmal eine Möglichkeit zu shoppen und quelle surprise: sie ist dem Shop im VitraHaus gar nicht unähnlich. Hier werden nur neben den Produkt-Souvenirs auch eine Reihe von Publikationen rund ums Design angeboten. Dahinter befindet sich die Dauerausstellung des Schaudepots. Diese ist zur Zeit unseres Besuchs nach den Farben der Möbel sortiert. Eine auf den ersten Blick ästhetisch gefällige Praxis, die sich seit Jahren in so manchem Wohn- oder Schreibzimmer wiederfindet. Ist dort die Entscheidung für die schöne Oberfläche gegenüber einer thematischen Sortierung durchaus zu verkraften, lässt sich im Schaudepot die Frage stellen, welchen Mehrwert diese Entscheidung bringt. Ohne Frage sieht diese Sortierung gefälliger aus, als die vormals historisch strukturierte, doch verliert man sich schnell in den Farben und Formen ohne zeitliche Orientierung. Wenig hilfreich ist da auch die dürftige Beschilderung der Exponate. Herauszufinden, welcher Infotext zu welchem Exponat denn nun eigentlich gehört, ermüdet und führt dazu, sich durch die farbenprächtige Ausstellung treiben zu lassen. Auch das muss nichts Schlechtes sein, wie das endlose Scrollen und Schauen von unterhaltsamen Clips auf TikTok und Instagram zeigt, und klar: andere Arrangements unter anderen Gesichtspunkten schaffen andere Sichtweisen und Synergien. Aber irgendwie bleiben intellektuelle Vertiefung und der unschuldige Durst nach Wissen auf der Strecke.
Überhaupt ist es angesichts der Fülle an vorhandener Designgeschichte irgendwie ernüchternd, wie wenig komplexes Wissen sich dort überhaupt aneignen lässt. Denn leider findet sich vor Ort keine – zumindest für uns einfach wahrnehmbare – Möglichkeit, sich tiefgründiger mit dem Reichtum der im Schaudepot versammelten Designgeschichte auseinanderzusetzen. So lässt sich quasi sinnbildlich im Keller durch große Glasscheiben nur ein sehnsüchtiger Blick auf die Schätze der Sammlung werfen. Eine Führung wäre sicherlich sinnvoll gewesen. Die dann hoffentlich einen ähnlichen Eindruck hinterlässt wie die sehenswerte Dokumentation Vitra Chair Times.
Man bleibt etwas ratlos zurück. Ohne Frage sind unter dem Namen Vitra herausragende Gestalter:innen und deren Designs und Entwürfe versammelt. Doch bleibt deren Erscheinung im Schaudepot eher flüchtig und in Anmutungen haften. In der Tiefe wird nicht klar, warum das alles so bedeutend und hochwertig ist, man ist dazu verdammt, der Inszenierung zu glauben – oder eben nicht.
Die Entscheidung darüber, welches Motiv Vitra mit dem Campus stärker verfolgt liegt wohl letztendlich im Auge des Betrachters: Ist es ein glaubwürdiger Bildungsauftrag oder schmückt sich Vitra primär mit der Geschichte des Designs, um Verkaufsförderung zu betreiben?
BODY OF KNOWLEDGE
Der Vitra Campus
„Das einzigartige Ensemble zeitgenössischer Architektur auf dem Vitra Campus vereint Produktionsstätte, Museen, Architektur und Inspiration für Ihr Zuhause. Viel Freude bei Ihrem Besuch.“
→ zur Website Vitra Campus
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Die Doku ist auf diversen Kanälen bei Youtube verfügbar.
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Mateo Kries ist Kurator des Vitra Design Museums und mit 28.8K Followern sicherlich einer der größten deutschen „Design-Influencer“.
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