Rezension: Sabeth Wiese
DB, warum lässt du mich so sitzen?
APR 2023
Um zunächst mit einem Geständnis zu beginnen: ich empfinde eine wahre Liebe für den DB Fernverkehr. Es ist – das wissen wir alle – eine schwierige, weil leider etwas einseitige Beziehung: die Bahn ist wahrlich keine günstige Liebhaberin, kommt zu spät zu Dates, sagt auch mal spontan ab und lässt einen im Regen stehen. Aber weil wir so oft schöne Wochenenden verbringen, verzeihe ich das gerne.
Was ich nicht gerne verzeihe: dass die Sitze immer unbequemer werden, obwohl sitzen und warten der Kern der Value Proposition der DB ist und dieser Sitz doch eigentlich der wichtigste Touchpoint in meiner User Journey.
Es treibt mich immer wieder neu in den Wahnsinn, wenn ich die Lehne schräg stelle und versuche es mir gemütlich zu machen, aber mein Kopf halb unter der Kopfteil-Seitenlehne durch rutscht. Für mich als 168cm große Person ist die Kopfstütze bei schräger Rückenlehne zu weit oben, was ich faszinierend finde, denn deutsche Frauen sind im Schnitt sogar zwei Zentimeter kleiner als ich.
Also kann ich meinen Kopf weder am Sitz noch am Fenster anlehnen. Welche Sadisten haben sich das ausgedacht? Welche blöden Leistungsträger:innen, die nie ein Schläfchen im Zug halten würden, sondern immer fleißig mit geradem Rücken arbeiten, haben das entschieden?
Immerhin ist es nicht mein Problem als kleine Frau, dass man im Rahmen der aktuell existierenden “Sitzkinematik” (ja so nennt es die Bahn, tolles Wort, wow) die Sitzfläche nach vorne verschiebt, um die Lehne schräg zu stellen. Dafür ja aber das Problem von größeren Leuten. Möglicherweise dachte die Bahn aber auch ganz bewusst: ausgleichende Gerechtigkeit, loose-loose, die einen können den Sitz gemütlich schräg stellen, aber den Kopf nicht mehr angenehm seitlich anlehnen, die anderen können den Sitz nicht bequem schräg stellen, aber wenn sie es die gequetschten Knie in Kauf nehmen, liegt wenigstens der Kopf entspannt.
Ein ergonomischer Hohn, der mich auch immer wieder fasziniert: in manchen, aber nicht in allen neuen ICEs ist die Armlehne direkt an der Wand. Wer also im ICE am Fenster sitzt, braucht in manchen Zügen gar nicht glauben er könne seinen Ellenbogen auf der 2cm breiten Armlehne ablegen, es sei denn man hat Unterarme schlank wie Spaghetti.
Doch – oh was für eine Freude – der Bahn scheint das Problem wohl nicht gänzlich entgangen zu sein, denn über die Sitze der kommenden ICE-Generation schreibt sie: “Die Bequemlichkeit der Sitze prägt wesentlich das Reiserlebnis.” Halleluja! Dann geht es im Artikel um die neuen Sitze, dort heißt es: ”In einem mehrstufigen Prozess hat die DB die neuen ICE-Sitze, die im ICE 3neo ab Ende 2023 eingesetzt werden, gemeinsam mit Industriepartnern, renommierten Ergonomie-Expert:innen und Designagenturen entwickelt. Mit bis zu 900 Proband:innen wurden verschiedene Prototypen intensiv getestet und weiter optimiert. Die nächste Sitzgeneration verfügt über eine neuartige Sitzkinematik, bei der sich die Rückenlehne und neu der Kopfbereich in der Ruheposition nach hinten bewegen. Das ermöglicht den Reisenden eine entspanntere Kopfhaltung zum Schlafen oder Ruhen.” Mit Blick auf den Sitzkomfort der aktuellen Sitze, die ganz bestimmt auch getestet wurden, in der Designabteilung der Bahn sind ja schon Profis am Werk, hoffe ich, da haben sich 900 kleine und große Personen nicht bloß flüchtig gesetzt, sondern sich mehrere Stunden am Stück sitzend und halb-schlafend gelangweilt, während die Ansage “Leider kommt es zu Störung im Testablauf, der Test muss voraussichtlich um 30min verlängert werden” die Laune der Testpersonen zusätzlich in den Keller befördert hat.
Wenn es also nun heißt “Wir haben […] den Menschen und seine Bedürfnisse auf der Reise in den Mittelpunkt gestellt. Der Gedanke, sich bei der DB bei 300 km/h wie im eigenen Wohnzimmer zu fühlen, hat uns geleitet.”, dann kann ich die Zukunft wirklich kaum abwarten. Meine letzte ICE Fahrt, Hamburg nach Köln mit rumorendem Oster-Braten-Bauch und Personenschaden am Gleis, war echt keine Freude.
Und falls wir doch alle wieder enttäuscht werden, dann Deutsche Bahn, geliebte Bahn, du meine favorisierte Partnerin in der Klimakrise, verscheißer‘ mich doch einfach nicht und sag einfach “Unser Ziel ist es Gewicht, Material und Strom zu sparen und dafür müssen wir alle enger zusammenrücken.” und dann mache ich das doch gerne…
BODY OF KNOWLEDGE
Die Bahn über die neuen Züge
→ www.deutschebahn.com
So groß sind die Deutschen wirklich
→ www.destatis.de
Rezension: Sabeth Wiese
DB, warum lässt du mich so sitzen?
APR 2023
Um zunächst mit einem Geständnis zu beginnen: ich empfinde eine wahre Liebe für den DB Fernverkehr. Es ist – das wissen wir alle – eine schwierige, weil leider etwas einseitige Beziehung: die Bahn ist wahrlich keine günstige Liebhaberin, kommt zu spät zu Dates, sagt auch mal spontan ab und lässt einen im Regen stehen. Aber weil wir so oft schöne Wochenenden verbringen, verzeihe ich das gerne.
Was ich nicht gerne verzeihe: dass die Sitze immer unbequemer werden, obwohl sitzen und warten der Kern der Value Proposition der DB ist und dieser Sitz doch eigentlich der wichtigste Touchpoint in meiner User Journey.
Es treibt mich immer wieder neu in den Wahnsinn, wenn ich die Lehne schräg stelle und versuche es mir gemütlich zu machen, aber mein Kopf halb unter der Kopfteil-Seitenlehne durch rutscht. Für mich als 168cm große Person ist die Kopfstütze bei schräger Rückenlehne zu weit oben, was ich faszinierend finde, denn deutsche Frauen sind im Schnitt sogar zwei Zentimeter kleiner als ich.
Also kann ich meinen Kopf weder am Sitz noch am Fenster anlehnen. Welche Sadisten haben sich das ausgedacht? Welche blöden Leistungsträger:innen, die nie ein Schläfchen im Zug halten würden, sondern immer fleißig mit geradem Rücken arbeiten, haben das entschieden?
Immerhin ist es nicht mein Problem als kleine Frau, dass man im Rahmen der aktuell existierenden “Sitzkinematik” (ja so nennt es die Bahn, tolles Wort, wow) die Sitzfläche nach vorne verschiebt, um die Lehne schräg zu stellen. Dafür ja aber das Problem von größeren Leuten. Möglicherweise dachte die Bahn aber auch ganz bewusst: ausgleichende Gerechtigkeit, loose-loose, die einen können den Sitz gemütlich schräg stellen, aber den Kopf nicht mehr angenehm seitlich anlehnen, die anderen können den Sitz nicht bequem schräg stellen, aber wenn sie es die gequetschten Knie in Kauf nehmen, liegt wenigstens der Kopf entspannt.
Ein ergonomischer Hohn, der mich auch immer wieder fasziniert: in manchen, aber nicht in allen neuen ICEs ist die Armlehne direkt an der Wand. Wer also im ICE am Fenster sitzt, braucht in manchen Zügen gar nicht glauben er könne seinen Ellenbogen auf der 2cm breiten Armlehne ablegen, es sei denn man hat Unterarme schlank wie Spaghetti.
Doch – oh was für eine Freude – der Bahn scheint das Problem wohl nicht gänzlich entgangen zu sein, denn über die Sitze der kommenden ICE-Generation schreibt sie: “Die Bequemlichkeit der Sitze prägt wesentlich das Reiserlebnis.” Halleluja! Dann geht es im Artikel um die neuen Sitze, dort heißt es: ”In einem mehrstufigen Prozess hat die DB die neuen ICE-Sitze, die im ICE 3neo ab Ende 2023 eingesetzt werden, gemeinsam mit Industriepartnern, renommierten Ergonomie-Expert:innen und Designagenturen entwickelt. Mit bis zu 900 Proband:innen wurden verschiedene Prototypen intensiv getestet und weiter optimiert. Die nächste Sitzgeneration verfügt über eine neuartige Sitzkinematik, bei der sich die Rückenlehne und neu der Kopfbereich in der Ruheposition nach hinten bewegen. Das ermöglicht den Reisenden eine entspanntere Kopfhaltung zum Schlafen oder Ruhen.” Mit Blick auf den Sitzkomfort der aktuellen Sitze, die ganz bestimmt auch getestet wurden, in der Designabteilung der Bahn sind ja schon Profis am Werk, hoffe ich, da haben sich 900 kleine und große Personen nicht bloß flüchtig gesetzt, sondern sich mehrere Stunden am Stück sitzend und halb-schlafend gelangweilt, während die Ansage “Leider kommt es zu Störung im Testablauf, der Test muss voraussichtlich um 30min verlängert werden” die Laune der Testpersonen zusätzlich in den Keller befördert hat.
Wenn es also nun heißt “Wir haben […] den Menschen und seine Bedürfnisse auf der Reise in den Mittelpunkt gestellt. Der Gedanke, sich bei der DB bei 300 km/h wie im eigenen Wohnzimmer zu fühlen, hat uns geleitet.”, dann kann ich die Zukunft wirklich kaum abwarten. Meine letzte ICE Fahrt, Hamburg nach Köln mit rumorendem Oster-Braten-Bauch und Personenschaden am Gleis, war echt keine Freude.
Und falls wir doch alle wieder enttäuscht werden, dann Deutsche Bahn, geliebte Bahn, du meine favorisierte Partnerin in der Klimakrise, verscheißer‘ mich doch einfach nicht und sag einfach “Unser Ziel ist es Gewicht, Material und Strom zu sparen und dafür müssen wir alle enger zusammenrücken.” und dann mache ich das doch gerne…
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