Rezension: Dr. Jonas Rehn-Groenendijk
Plädoyer für mehr Demut im Design
OKT 2022
Es gehört zu den wesentlichen Voraussetzungen „guter“ Gestaltung, dass Designer:innen ein ausgeprägtes Maß an Empathie besitzen. Sie sollten sich in die Bedürfnisse und Emotionen ihrer jeweiligen Zielgruppe eindenken, um wirklich nutzer:innenzentriert gestalten zu können. Doch wie ich zeigen möchte, ist Empathie, insbesondere im Medical Design, wo oft besonders vulnerable und neurodiverse Personengruppen angesprochen werden, nur ein Baustein von mindestens dreien. So geht es neben einer soliden wissenschaftlichen Basis der Gestaltung auch darum, eigene ästhetische Vorlieben oder die ästhetische Vermarktbarkeit des Gestalteten in den Hintergrund treten zu lassen. Diese in der gesundheitsfördernden Gestaltung zentralen Aspekte lassen sich auch auf weitere Bereiche des Designs übertragen, wo das Ziel nicht nur eine bedürfnisgerechte, sondern tatsächlich auch wirksame Gestaltung ist.
Die wissenschaftliche Basis
Folgt man den Prinzipien des evidence-based Design, so nimmt die wissenschaftliche Recherche und Beachtung verfügbarer Daten und Erkenntnisse zum jeweiligen Gestaltungkontext eine fundamentale Rolle ein. Was im internationalen Designdiskurs bereits seit einiger Zeit vor allem im Zusammenhang einer gesundheitsfördernden Gestaltung zur etablierten Praxis gehört, findet zunehmend auch im deutschsprachigen Feld der Gestaltung an Bedeutung. Hierbei gilt es nicht einfach nach Schema-F Studienergebnisse oder gar evidenzbasierte Guidelines als Formel und Blaupausen anzusehen und den Gestaltungsprozess in die Hand der Daten zu legen. Nein, im Gegenteil geht es darum, wissenschaftliche Erkenntnisse zu verstehen und auf den jeweiligen individuellen Gestaltungskontext zu übertragen, ihn an die entsprechende Zielgruppe, den jeweiligen zeitlichen, geografischen, sozialen und kulturellen Rahmen anzupassen.
Dabei kann es mitunter auch hilfreich oder gar notwendig sein, eigene empirische Forschungsmethoden anzuwenden, um das Recherchierte zu ergänzen oder zu überprüfen. Natürlich wird sich das Ausmaß dieser methodischen Möglichkeiten nach dem jeweils verfügbaren monetären, personellen und zeitlichen Budget richten. Es kann aber erstaunlich sein, mit welch einfachen Mitteln und effektiven Prozessen grundlegende Mehrwerte für das Design erarbeitet werden können.
Eine einzigartige Perspektive
Unabhängig davon wie ausgeprägt unsere empathischen Fähigkeiten sind, wie gut wir die Zielgruppe kennen, wie viele Erfahrungen wir privat oder im beruflichen Kontext mit Vertreter:innen der Nutzer:innen gemacht haben, wir werden mit großer Wahrscheinlichkeit nie die Lebensrealität dieser Gruppe ganz nachempfinden können – es sei denn wir gehören selbst dieser Gruppe an.
Konkret bedeutet das, dass erst die unmittelbare und konsequente Einbeziehung der Nutzenden in den Gestaltungsprozess dazu führt, die authentischen Bedürfnisse und Perspektiven dieser Gruppe im Design einigermaßen sicher zu berücksichtigen. Partizipative Ansätze, Co-Creation und weitere Formate und Terminologien sind gewiss nichts Neues, erst recht nicht im Design. Jedoch wird häufig unterschätzt, was Co-Creation in der tatsächlichen Umsetzung bedeuten kann. Während es gängige Praxis ist im Rahmen von Fokusgruppen oder User Tests Konzepte oder Designs mit Nutzenden weiterzudenken oder im Rahmen von Design Thinking Workshops die Struktur der nächsten Website zu erarbeiten, kann dieser Prozess herausfordernder werden, wenn wir Nutzende kontinuierlich entlang des gesamten Prozesses in die Gestaltung einbeziehen wollen. Dies gilt erst recht, wenn wir mit vulnerablen Gruppen wie Kindern, Menschen mit Demenz oder psychiatrischen Erkrankungen zusammenarbeiten wollen. Aus Ermangelung an geeigneten Formaten, Erfahrung oder schlicht aus methodischer Skepsis kann Partizipation und Co-Design hier schnell unattraktiv erscheinen. Doch der mögliche Mehraufwand oder die benötigte methodische Flexibilität zahlt sich aus. So zeugen immer mehr Konferenzen, Studien und methodologische Papiere von effektiven und zielführenden Formaten mit verschiedenen vulnerablen Nutzer:innengruppen. Häufig geht es dabei zunächst darum, das jeweilige Format auf die mentalen und physischen Fähigkeiten und Bedarfe der Nutzer:innengruppe anzupassen. Dies kann nicht nur die konkreten Techniken und Abläufe einschließen, sondern auch prozedurale Aspekte wie die Möglichkeit asynchroner Partizipation, Verflechtung mit dem sonstigen Alltag (z.B. in Pflegeeinrichtungen) und die Berücksichtigung von möglichen Komorbiditäten (etwa in der Zusammenarbeit mit Menschen mit Demenz).
Demut im Design
Die wahrscheinlich größte Herausforderung dieses Prozesses liegt jedoch darin, die in Co-Creation Phasen gewonnenen Ergebnisse auch tatsächlich und unvoreingenommen in den eigenen Entwurfskontext zu übersetzen. Dabei kann es durchaus zu Konflikten kommen, nicht zuletzt mit dem eigenen ästhetischen und meist subjektiven Geschmack. Noch komplexer wird dieses Unterfangen, wenn sich Gestaltende nicht nur ihrer eigenen ästhetischen Präferenz gegenüber rechtfertigen müssen, sondern im Wettbewerb zu anderen Anbietern Portfolios und Showcases stehen, die leider ohne ein tiefgreifendes Verständnis des Konktexts als attraktiv, zeitgemäß oder einfach gut wahrgenommen werden. Spätestens hier bedarf der Fachdiskurs in Design und Architektur einer gesellschaftlichen Öffnung. Doch wenn Gestaltung darauf abzielt Gesundheit und Wohlbefinden zu fördern und dabei gar auf vulnerable Gruppen ausgerichtet ist (wie es in der Regel im therapeutischen Kontext der Fall ist) sollten die möglichen wirtschaftlichen Konsequenzen ausgehalten werden. Dann kommt die Demut kommt neben den Patient*innen auch einer breiten Nutzer*innengruppe zugute, zu der auch Angehörige, das medizinischen Personal und alle anderen, die mit dem zu Gestaltenden interagieren bzw. davon betroffen sind.
Empathie
Und spätestens hier kommt auch die Empathie wieder ins Spiel. Evidence-based Design, Co-Creation, empirischeForschungsmethoden – das alles sind letzten Endes Vehikel um bedürfnisgerechte Entwürfe zu erarbeiten. Empathie und Demut sind dabei eng miteinander verbunden und beschreiben eine Haltung, die Gestaltende als Dienstleister und Facilitators begreift, die sich persönlich ein Stück weit von ihren Entwürfen distanzieren können müssen, ohne jedoch die notwendige Leidenschaft für den Prozess und das Ergebnis zu verlieren. Es geht dabei letztendlich darum die eigene Rolle und die Grenzen zu kennen und entsprechend dieser Reflektion zu handeln. Was sich leicht liest, stellt jedoch in der Praxis ohne Frage eine fortlaufende Herausforderung dar.
BODY OF KNOWLEDGE
xx
Rezension: Dr. Jonas Rehn-Groenendijk
Plädoyer für mehr Demut im Design
OKT 2022
Es gehört zu den wesentlichen Voraussetzungen „guter“ Gestaltung, dass Designer:innen ein ausgeprägtes Maß an Empathie besitzen. Sie sollten sich in die Bedürfnisse und Emotionen ihrer jeweiligen Zielgruppe eindenken, um wirklich nutzer:innenzentriert gestalten zu können. Doch wie ich zeigen möchte, ist Empathie, insbesondere im Medical Design, wo oft besonders vulnerable und neurodiverse Personengruppen angesprochen werden, nur ein Baustein von mindestens dreien. So geht es neben einer soliden wissenschaftlichen Basis der Gestaltung auch darum, eigene ästhetische Vorlieben oder die ästhetische Vermarktbarkeit des Gestalteten in den Hintergrund treten zu lassen. Diese in der gesundheitsfördernden Gestaltung zentralen Aspekte lassen sich auch auf weitere Bereiche des Designs übertragen, wo das Ziel nicht nur eine bedürfnisgerechte, sondern tatsächlich auch wirksame Gestaltung ist.
Die wissenschaftliche Basis
Folgt man den Prinzipien des evidence-based Design, so nimmt die wissenschaftliche Recherche und Beachtung verfügbarer Daten und Erkenntnisse zum jeweiligen Gestaltungkontext eine fundamentale Rolle ein. Was im internationalen Designdiskurs bereits seit einiger Zeit vor allem im Zusammenhang einer gesundheitsfördernden Gestaltung zur etablierten Praxis gehört, findet zunehmend auch im deutschsprachigen Feld der Gestaltung an Bedeutung. Hierbei gilt es nicht einfach nach Schema-F Studienergebnisse oder gar evidenzbasierte Guidelines als Formel und Blaupausen anzusehen und den Gestaltungsprozess in die Hand der Daten zu legen. Nein, im Gegenteil geht es darum, wissenschaftliche Erkenntnisse zu verstehen und auf den jeweiligen individuellen Gestaltungskontext zu übertragen, ihn an die entsprechende Zielgruppe, den jeweiligen zeitlichen, geografischen, sozialen und kulturellen Rahmen anzupassen.
Dabei kann es mitunter auch hilfreich oder gar notwendig sein, eigene empirische Forschungsmethoden anzuwenden, um das Recherchierte zu ergänzen oder zu überprüfen. Natürlich wird sich das Ausmaß dieser methodischen Möglichkeiten nach dem jeweils verfügbaren monetären, personellen und zeitlichen Budget richten. Es kann aber erstaunlich sein, mit welch einfachen Mitteln und effektiven Prozessen grundlegende Mehrwerte für das Design erarbeitet werden können.
Eine einzigartige Perspektive
Unabhängig davon wie ausgeprägt unsere empathischen Fähigkeiten sind, wie gut wir die Zielgruppe kennen, wie viele Erfahrungen wir privat oder im beruflichen Kontext mit Vertreter:innen der Nutzer:innen gemacht haben, wir werden mit großer Wahrscheinlichkeit nie die Lebensrealität dieser Gruppe ganz nachempfinden können – es sei denn wir gehören selbst dieser Gruppe an.
Konkret bedeutet das, dass erst die unmittelbare und konsequente Einbeziehung der Nutzenden in den Gestaltungsprozess dazu führt, die authentischen Bedürfnisse und Perspektiven dieser Gruppe im Design einigermaßen sicher zu berücksichtigen. Partizipative Ansätze, Co-Creation und weitere Formate und Terminologien sind gewiss nichts Neues, erst recht nicht im Design. Jedoch wird häufig unterschätzt, was Co-Creation in der tatsächlichen Umsetzung bedeuten kann. Während es gängige Praxis ist im Rahmen von Fokusgruppen oder User Tests Konzepte oder Designs mit Nutzenden weiterzudenken oder im Rahmen von Design Thinking Workshops die Struktur der nächsten Website zu erarbeiten, kann dieser Prozess herausfordernder werden, wenn wir Nutzende kontinuierlich entlang des gesamten Prozesses in die Gestaltung einbeziehen wollen. Dies gilt erst recht, wenn wir mit vulnerablen Gruppen wie Kindern, Menschen mit Demenz oder psychiatrischen Erkrankungen zusammenarbeiten wollen. Aus Ermangelung an geeigneten Formaten, Erfahrung oder schlicht aus methodischer Skepsis kann Partizipation und Co-Design hier schnell unattraktiv erscheinen. Doch der mögliche Mehraufwand oder die benötigte methodische Flexibilität zahlt sich aus. So zeugen immer mehr Konferenzen, Studien und methodologische Papiere von effektiven und zielführenden Formaten mit verschiedenen vulnerablen Nutzer:innengruppen. Häufig geht es dabei zunächst darum, das jeweilige Format auf die mentalen und physischen Fähigkeiten und Bedarfe der Nutzer:innengruppe anzupassen. Dies kann nicht nur die konkreten Techniken und Abläufe einschließen, sondern auch prozedurale Aspekte wie die Möglichkeit asynchroner Partizipation, Verflechtung mit dem sonstigen Alltag (z.B. in Pflegeeinrichtungen) und die Berücksichtigung von möglichen Komorbiditäten (etwa in der Zusammenarbeit mit Menschen mit Demenz).
Demut im Design
Die wahrscheinlich größte Herausforderung dieses Prozesses liegt jedoch darin, die in Co-Creation Phasen gewonnenen Ergebnisse auch tatsächlich und unvoreingenommen in den eigenen Entwurfskontext zu übersetzen. Dabei kann es durchaus zu Konflikten kommen, nicht zuletzt mit dem eigenen ästhetischen und meist subjektiven Geschmack. Noch komplexer wird dieses Unterfangen, wenn sich Gestaltende nicht nur ihrer eigenen ästhetischen Präferenz gegenüber rechtfertigen müssen, sondern im Wettbewerb zu anderen Anbietern Portfolios und Showcases stehen, die leider ohne ein tiefgreifendes Verständnis des Konktexts als attraktiv, zeitgemäß oder einfach gut wahrgenommen werden. Spätestens hier bedarf der Fachdiskurs in Design und Architektur einer gesellschaftlichen Öffnung. Doch wenn Gestaltung darauf abzielt Gesundheit und Wohlbefinden zu fördern und dabei gar auf vulnerable Gruppen ausgerichtet ist (wie es in der Regel im therapeutischen Kontext der Fall ist) sollten die möglichen wirtschaftlichen Konsequenzen ausgehalten werden. Dann kommt die Demut kommt neben den Patient*innen auch einer breiten Nutzer*innengruppe zugute, zu der auch Angehörige, das medizinischen Personal und alle anderen, die mit dem zu Gestaltenden interagieren bzw. davon betroffen sind.
Empathie
Und spätestens hier kommt auch die Empathie wieder ins Spiel. Evidence-based Design, Co-Creation, empirischeForschungsmethoden – das alles sind letzten Endes Vehikel um bedürfnisgerechte Entwürfe zu erarbeiten. Empathie und Demut sind dabei eng miteinander verbunden und beschreiben eine Haltung, die Gestaltende als Dienstleister und Facilitators begreift, die sich persönlich ein Stück weit von ihren Entwürfen distanzieren können müssen, ohne jedoch die notwendige Leidenschaft für den Prozess und das Ergebnis zu verlieren. Es geht dabei letztendlich darum die eigene Rolle und die Grenzen zu kennen und entsprechend dieser Reflektion zu handeln. Was sich leicht liest, stellt jedoch in der Praxis ohne Frage eine fortlaufende Herausforderung dar.
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