Interview mit Helge Aszmoneit
Über
Designliteratur
Fragen: Carl Friedrich Then, Sabeth Wiese, Franziska Porsch
FEB 2022
Die Recherche ist der Ausgangspunkt für jede Gestaltungsaufgabe, jeden Auftrag, jede wissenschaftliche oder gestalterische Arbeit. Doch dafür geeignete Literatur zu finden, ist oft erstaunlich schwer: Manchmal findet man eine Fülle an Büchern, die aber leider nicht gerade von einer Aura wissenschaftlicher Fundiertheit umgeben sind, manchmal findet man nichts. Was bleibt, ist das frustrierende Gefühl, nicht richtig gesucht zu haben. Oder die ungläubige Frage: Gibt es einfach keine Literatur zu dem Thema?
Anlass genug, mit Helge Aszmoneit über das Phänomen Designliteratur zu sprechen. Sie ist seit über 30 Jahren die „Hüterin“ der → stiftungseigenen Bibliothek des Rat für Formgebung in Frankfurt. Dort betreut sie den Bibliotheksbestand und hat als Beraterin für Designer:innen auf der Suche nach geeigneter Literatur einen Ruf, der ihr weit vorauseilt.
In unserer 4-köpfigen Runde haben wir darüber gesprochen, was sich eigentlich als Designliteratur qualifiziert, wo man sie findet, wen sie interessiert und welche Bücher das Potenzial haben, zu „ewigen Büchern“ werden.
Carl Friedrich Then: Ja liebe Helge, beginnen wir doch mal direkt mit der 100.000-Euro-Frage: Was ist eigentlich Designliteratur für dich?
Helge Aszmoneit: (lacht) Hab’ ich einen Telefonjoker? Was eigentlich Designliteratur für mich ist, das ist natürlich eine gute Frage… Ja, das ist das, wo Design draufsteht und auch drinsteht, sollte man meinen. Allerdings auch nicht immer, weil der Begriff Design in anderen Kontexten auch eine ganz andere Bedeutung hat, also nichts mit dem Design oder mit der Gestaltung zu tun hat, über die wir hier sprechen wollen. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen: Da muss man vorsichtig sein. In meinen Anfängen hatte ich auch mal ganz böse Fehlschüsse bei Käufen für die Bibliothek, weil der Titel so toll klang. Das war dann aber irgendetwas Mathematisches, Design hat ja gerade im Englischen viele Bedeutungen…
Es gibt immer noch genügend Menschen, die denken, es geht ohne. Mag sein, dass es ohne geht, aber ich denke mit geht es besser. Und gezielter!
Aber grundsätzlich könnte man sagen, dass Designliteratur alles das ist, was sich mit Gestaltung beschäftigt. Da sollte man nicht so streng sein. Vom Format her kann es erstmal egal sein, ob es von mir sogenannte „Bilderbücher“ sind oder eben Textbücher, solange es um jedwede Themen im Bereich der Gestaltung geht. Das ist das eine. Und das andere, das für mich noch wesentlich wichtiger und eigentlich auch viel interessanter ist, womit ich tagtäglich umgehe und was für mich deswegen unglaublich präsent ist, das ist die designrelevante Literatur. Also das, was sich nicht auf den ersten Blick mit Gestaltung beschäftigt, sondern das, was für die Leser:innen je nach Fragestellung relevant ist. Seien es eben technische Publikationen, oder tatsächlich Texte, die aus ganz anderen Bereichen kommen, wie aus der Philosophie, aus der Soziologie, aus den Wirtschaftswissenschaften. Design berührt ja wirklich so viele andere Disziplinen. Das alles ist für mich auch Designliteratur. Daraus entsteht aber natürlich ein Riesenkosmos an Möglichkeiten, was Designliteratur alles sein kann.
Franziska Porsch: Du meinst also, Designliteratur ist das, worauf Designer zum Lösen ihrer gestalterischen Aufgabe zurückgreifen?
Helge: Ja, dabei werden ja unterschiedliche Aspekte relevant, zu denen Gestalter:innen Informationen benötigen. Im besten Fall brauchen und suchen sie diese Informationen in der Literatur. Es gibt immer noch genügend Menschen, die denken, es geht ohne. Mag sein, dass es ohne geht, aber ich denke mit geht es besser. Und gezielter! Aber eine gewisse Vertrautheit mit den Themen, die das Design und das jeweilige „Designproblem“ angehen, sollte schon da sein. Denn du kannst zwar jemandem, der sich bislang nicht mit Wirtschaftswissenschaften beschäftigt hat, das Standardwerk „Marktfaktor Design“ hinlegen, aber wahrscheinlich versteht die Person nur die Hälfte davon, weil ihr das Vorwissen fehlt. Da wird es immer ein bisschen schwierig. Wenn ich gefragt werde: „Haben Sie denn auch noch ein Standardwerk zum Thema Marketing?“, dann sag’ ich: „Nein, hab’ ich leider nicht.“, denn das kann ich in einer Spezialbibliothek für Design einfach nicht abbilden. Und da muss man sich dann entscheiden, ob und wie weit ich gegebenenfalls in das Literaturangebot anderer Disziplinen einsteige.
Carl: Designliteratur findet ja nicht nur im Medium Buch statt. Was sind denn deine über die Jahre gewonnenen Erfahrungen und wie würdest du die verschiedenen Medien charakterisieren? Ist das Buch immer das Nonplusultra?
Helge: Wenn ich an Universitäten Kurse zu Recherche gebe, gehe ich mit den Studierenden zunächst die Medien durch. Ich fange mit dem schnellsten Medium an, das sind natürlich Newsletter, die relativ häufig kommen, die schnell produziert werden, die aber selten eine große Tiefe besitzen. Sie sind oftmals eher oberflächlich. Das würde ich nicht als Literatur bezeichnen, sondern als Informationsquelle. Dann haben wir das Internet in verschiedenen Ausformungen, wie zum Beispiel Blogs. Da gibt es viele interessante Texte, man darf aber nicht vergessen: Bei den ganzen digitalen Medien geht es ganz viel um Geschwindigkeit, um Aktualität. Und damit verbunden ist natürlich auch eine kurze redaktionelle Bearbeitung, eine hohe Fehleranfälligkeit, ein hohes Maß an Irrelevanz und auch an Veraltung. Aber es gibt im Netz durchaus auch digitale Publikationen, die Bestand haben. Die muss man allerdings gezielt suchen. Auf der anderen Seite hat es sich gerade jetzt während Corona gezeigt, dass E-Books einfach ungeheuer wichtig sind, weil Menschen sonst keinen Zugriff auf Informationen für ihre Forschung, für ihre Arbeit gehabt hätten.
Wir kennen das alle: Websites verschwinden, Beiträge von Seiten verschwinden, Newsletter verschwinden sowieso.
Und als nächstes gehe ich dann immer gerne zu den Zeitschriften, die einen deutlich längeren Zyklus haben. Zeitschriften haben eine Redaktion, die einen anderen Fokus legen kann, mit etwas mehr Zeit zum Recherchieren, weil ganz anders geplant werden kann, weil es nicht um Schnelligkeit geht, sondern um Relevanz.
Und dann kommen irgendwann die Bücher und das Buch ist definitiv das langsamste Medium. Ihr wisst es wahrscheinlich auch: Von der Idee bis zum Regal ein Jahr – und das ist schnell! Aber es gibt eben auch die Möglichkeit zu sagen, ich nehme mir die Zeit für ein Buch, recherchiere intensiver, kann mich auf ganz andere Quellen beziehen, kann da auch noch mal eine ganz andere Form der Bildredaktion betreiben, kann Indizes erstellen… Und das Buch hat noch einen wesentlichen Vorteil: Es ist haltbarer.
Carl: Und man könnte sagen, dort findet sich – idealerweise – die verdichtetste Form von Wissen, weil wesentlich mehr Zeit und Arbeit eingeflossen ist. Aber auch die Schwelle ist natürlich viel höher. Wenn ich ein Buch schreibe, hängt viel mehr Arbeit dran als an einem Newsletter oder an einem Beitrag für eine Website.
Helge: Genau! Deshalb ist das Buch haltbarer. Wir kennen das alle: Websites verschwinden, Beiträge von Seiten verschwinden, Newsletter verschwinden sowieso. Man findet das dann irgendwann nicht mehr wieder, aber das Buch und die Zeitschrift verschwinden nicht. Sie bleiben erhalten, dafür sorgen Bibliotheken.
Carl: Meine nächste Frage hängt auch mit dem zusammen, was uns motiviert hat, dieses Interview zu führen. Wo findet man eigentlich Designliteratur, wenn sie einmal in der Welt ist? Wir haben oft den Eindruck gar nicht so genau zu wissen, wo man eigentlich suchen soll. An welchen Orten findet das statt, das Sammeln, Organisieren und Bereitstellen von physischer Designliteratur?
Helge: Also einerseits findet das natürlich in Verlagen statt, ohne die wird meistens kein Buch verlegt. Aber wo bleiben sie danach? Entweder bei Menschen privat zu Hause, aber das ist natürlich kostspielig und für nicht so viele Leute zugänglich. Oder man geht halt dahin, wo Literatur tatsächlich gesammelt wird, also wo physische und inzwischen natürlich auch digitale Literatur gespeichert wird, das heißt Bibliotheken. Und da gibt es viele Möglichkeiten. Natürlich gibt es Designliteratur in vielen Stadtbibliotheken. Nicht in der Konzentration, wie es sie in einer Unibibliothek gibt und schon gar nicht in der Konzentration, wie es sie in einer auf Design spezialisierten Bibliothek wie in einer Hochschule, in Institutionen oder in Museen gibt. Diese Struktur muss ich durchschauen, um zu verstehen, wo ich suchen muss.
Carl: Aber so richtig sichtbar ist Design dort ja nicht. Man muss schon richtig suchen und die OPACs der Bibliotheken sind nun bei Weitem kein Ausbund an Nutzerfreundlichkeit. In den Literaturwissenschaften zum Beispiel finde ich es wesentlich einfacher an Literatur zu kommen. Es gibt an fast jeder Universität literaturwissenschaftliche Institute mit deren Institutsbibliotheken, in denen relevante Literatur gesammelt wird. Design wird an den großen Universitäten nicht oder kaum gelehrt. Aber viel deutlicher wird es ja, wenn man sich mal die bibliothekarischen Klassifikationen anschaut, die für die Erschließung und Organisation von Beständen herangezogen werden. Design hat hier keine eigene Systemstelle, sondern ist oft einfach nur eine Unterkategorie bei Kunstgewerbe oder Kunstgeschichte.
Helge: Das hängt damit zusammen, dass Design eben noch eine recht junge Disziplin ist. In den Klassifikationen bildet sich das sehr unterschiedlich ab, aber das ist ein sehr spezielles und tatsächlich abendfüllendes Thema. An Designhochschulen oder auch speziellen Designbibliotheken ist das natürlich anders, dort sind die Klassifikationen und Systematiken konkret auf den Bedarf der Lehrinhalte ausgerichtet. Solche Systematiken werden dann aber von diesen Bibliotheken selbst erstellt. Wobei ich mir manchmal gar nicht so sicher bin, wie viele Designstudierende überhaupt die hochschuleigenen Bibliotheken besuchen. Ich gebe ja seit Jahren Seminare zur Recherche im Design und ich bin manchmal echt erstaunt, wie wenig Studierende in die Bibliothek gehen. Es gibt aber auch Designhochschulen, da wird die Bibliotheksnutzung kultiviert, das hat immer unmittelbar etwas mit den Hochschulen zu tun.
Carl: Aber außerhalb von Designhochschulen findet das konsequente Sammeln von Designliteratur eher weniger statt, oder?
Helge: Naja, das stimmt so nicht ganz! Die Universitätsbibliotheken sind schon auch sogenannte Universalbibliotheken, die sich aber natürlich an den Fachbereichen und Studieninhalten der eigenen Hochschule orientieren. Das ist schon richtig. Aber nichtsdestotrotz gibt es auch da immer wieder Literatur zum Thema Gestaltung. Eigentlich nicht verwunderlich, da Design so viele andere Disziplinen berührt. Man findet die Designliteratur aber dann nicht an einem Ort oder Regal, sondern dort, wo sie thematisch zugeordnet wird.
Das hängt tatsächlich davon ab, welche Themen gerade ganz angesagt sind und entsprechend – da muss ich jetzt ein bisschen vorsichtig sein, ich will nicht sagen kapern – aber belegen doch bestimmte Disziplinen dann die Publikationswelt.
Denn am Ende hängt der Bestand einer Bibliothek eben von der Sammlungsmotivation ab. Die hängt natürlich mit Studiengängen zusammen, dann hängt die mit den Professor:innen zusammen, was die Leute dort unterrichten, welche Interessen sie haben, welche Schwerpunkte sie setzen, ob Semesterapparate benötigt werden. Da gibt es ganz viele Faktoren, die dazu führen, dass Literatur in den Bestand eingeht, die sehr speziell ist, obwohl es dort nicht den „passenden Studiengang“ gibt. Gleiches gilt übrigens auch für Designbibliotheken in Institutionen und Museen: solche Bestände werden geprägt von den Forschungs- oder Ausstellungthemen, den Institutsleitungen, den Mitarbeiter:innen und auch von den Bibliothekar:innen.
Sabeth Wiese: Aber wie würdest du sagen, wird Design dann abgebildet? Wir hatten eben das Beispiel der Stadtbibliothek. Welche Form von Designliteratur ist dort vertreten? Sind es dann eher die „Bilderbücher“ oder die „100 Entwürfe von Philippe Starck“. Welche Formate sind es?
Helge: Ja, das dürften eher die – ich sage das mal, ohne es abzuwerten zu wollen – populären Dinge sein, für die sich Menschen privat interessieren, ohne einen beruflichen Hintergrund zu haben. Aber ich weiß, dass es hier in der Stadtbücherei Frankfurt auch viel zu Grundlagen gibt: Wie gestalte ich eine Website? Wie gestalte ich ein Logo? Was ist Grafikdesign? Also angewandte Themen, mit denen man gerade auch junge Menschen kriegen kann, die da plötzlich ein Interesse entwickeln und dann mal in die Stadtbücherei gehen, weil sie einfach nicht wissen können, dass es Spezialbibliotheken gibt und was dort vorhanden ist. Müssen sie auch nicht! Eine öffentliche Bibliothek bedient diese Bedürfnisse unkompliziert und direkt. Aber es gibt in öffentlichen Bibliotheken auch viel Grundlagenliteratur zu Design oder Designgeschichte, dort steht mehr, als man vermutet.
Sabeth: Es gibt ja auch ganz viel Literatur zu so Themen wie „Design für CEOs“, „Warum ist Design wichtig?“ und natürlich zu Design Thinking… Diese Bücher richten sich ja gar nicht an Designer:innen. Deswegen frage ich mich immer: Wo findet diese Literatur eigentlich statt, wo tritt sie auf und zwar jenseits des Internets?
Helge: Ja, Design Thinking ist halt so ein Buzzword geworden. Aber es ist eigentlich ein ganz gutes Beispiel: Das findet sehr viel bei den Wirtschaftswissenschaften und bei der Wirtschaftspsychologie statt. Denn das sind angewandte Dinge, um im Management und im Marketing etwas Innovatives zu machen, warum auch nicht. Das findet aber tatsächlich nicht so sehr in Spezialbibliotheken für Design statt. Also wir haben, glaube ich, nur eine Handvoll Bücher zu Design Thinking und ich werde dazu auch nur ganz selten gefragt. Das interessiert ja Designer:innen auch nicht, sie praktizieren es ja.
Franziska: Eine spannende Frage ist doch dann, wer eigentlich über und zum Design publiziert und warum. Mir scheint, da gibt es zu bestimmten Zeiten verschiedene Cluster und Peaks.
Helge: Ja, da entstehen Peaks, Höhepunkte. Das hängt tatsächlich davon ab, welche Themen gerade ganz angesagt sind und entsprechend – da muss ich jetzt ein bisschen vorsichtig sein, ich will nicht sagen kapern – aber belegen doch bestimmte Disziplinen dann die Publikationswelt. Im Moment sind es die Philosophen. Das ist der Wahnsinn, was da gerade publiziert wird. Das hängt natürlich auch damit zusammen, dass so viele Designhochschulen das Promotionsrecht bekommen haben. Da wird sehr viel zu Designtheorie gearbeitet und geforscht und grundsätzlich sind Theoretiker:innen aller Disziplinen schon sehr daran interessiert, dass ihre Forschungen publiziert werden und damit in die Debatten einfließen.
Carl: Wenn man bei dir in der Bibliothek die Regale abläuft, fällt auf, dass zu einer gewissen Zeit sehr viele Monografien zu einzelnen Designer:innen erschienen sind.
Helge: Ja, das war mal eine Zeitlang durchaus populär, auch wenn das Werk dieser Designer:in zu dem Zeitpunkt noch gar nicht so umfangreich war. Was da der Treiber dieses Trends war, ist mir bis heute nicht so ganz klar. Ob es der Wunsch der Designer:innen war, ein Buch über sich zu haben, um dem eigenen Werk mehr Gewicht zu verleihen oder ob das von den Verlagen ausging, die in diesen Designermonografien besonders viel ökonomisches Potential gesehen haben.
Und es gab eine Zeit, da wurden auch zu vielen historischen Gestalter:innen Monografien oder Ausstellungskataloge publiziert, das ist natürlich für den Erhalt und die Vermittlung der Designgeschichte relevant und da sind manche Forschungen noch gar nicht abgeschlossen.
Also das Design lebt sicherlich auch davon, dass es in so viele Disziplinen hineinragt, dass es viele andere Disziplinen unterstützen kann, sie selber aber auch nutzen kann.
Aber in den 1990er-Jahren war dann insbesondere Designmanagement angesagt. Es gab eine Menge Wirtschaftswissenschaftler:innen, die dazu publiziert haben. Das heißt, da hat die Disziplin der Wirtschaftswissenschaften das Thema Design besetzt. Bionik war zum Beispiel auch mal ein ganz großes Thema Ende der 1990er-, Anfang der 2000er-Jahre, neue Materialien waren auch mal ein ganz großes Thema, das war auch so um die Jahrtausendwende, unfassbar, was da alles erschienen ist. Und solche Wellen kannst du meistens in Phasen von 5 bis 10 Jahren einordnen. 10 Jahre, das ist schon sehr lange, aber 5 Jahre dürften es im Durchschnitt sein.
Franziska: Ich frage mich an der Stelle, ob man eine These darüber aufstellen kann, was das mit der Bedeutung oder auch Deutung von Design macht. Wer publiziert in welcher Art und Weise über Design oder zu Design? Und was heißt das, wenn andere Disziplinen das Thema „kapern“? Wer hat dann die Deutungsmacht über die Designdisziplin?
Helge: Jaaa … (atmet lange aus) Das ist eine gute Frage. Also das Design lebt sicherlich auch davon, dass es in so viele Disziplinen hineinragt, dass es viele andere Disziplinen unterstützen kann, sie selber aber auch nutzen kann. Das ist schon sehr besonders, denke ich, am Design. Und die Deutungshoheit, die wandelt sich eben immer. Man muss sich eigentlich viel eher die Frage stellen, warum es solche Erscheinungen wie bestimmte Peaks gibt, die da sind: Designmanagement, Corporate Design, Corporate Architecture. Irgendwann hieß alles nur noch Corporate. Jetzt gerade ist es Transformation und Nachhaltigkeit! Wer treibt das eigentlich, treibt die Disziplin? Wer ist eigentlich der Treiber dafür, dass plötzlich ein Thema so eine Relevanz bekommt? Das Thema Designmanagement in den 1990er-Jahren bis zur Jahrtausendwende, es war unglaublich, was da alles erschienen ist. Und ich habe dann irgendwann mal unsere Bestände angeguckt und gedacht: „Das ist ja interessant. Ja, da ist in einem Londoner Verlag zum Thema Designmanagement – ich glaube es war von Ende der 1940er – publiziert worden.“ Da denke ich: „Jo! Die haben da schon mal drüber gesprochen und nachgedacht. Ohne Zweifel wird sehr viel an Erkenntnissen und Erfahrungen dazu gekommen sein, manches wird sich gewandelt haben, aber über einiges wird man in den 40ern schon so nachgedacht haben wie heute.“
Aber ich sehe im Design, dass es Literatur oder Texte gibt, die 50 Jahre alt oder älter sind, und du kannst sie heute lesen und sie sind immer noch relevant.
Aber wie kommt es überhaupt, dass bestimmte Themen so an die Oberfläche „gespült“ und in der Disziplin heftig diskutiert werden? Da gibt es natürlich Menschen mit Antennen, die genau das erkennen und Themen für sich und sicherlich auch für andere entdecken und darüber informieren und kommunizieren wollen. Das geht immer noch sehr gut über Literatur, egal ob analog oder digital.
Franziska: Man könnte ja auch behaupten, dass das Design davon profitiert. Denn zumindest wird es durch das Zutun Anderer publik, auch wenn natürlich die Gefahr besteht, dass es falsch kommuniziert oder missverstanden wird. Genauso wie du nur wenige Bücher zu Design Thinking in der Bibliothek hast, weil es mit dem Verständnis von Design, so wie wir es auch in dieser Runde teilen, wenig zu tun hat.
Helge: Ja, wenn du in einer Spezialbibliothek arbeitest, dann sind die meisten Anfragen sehr spezielle Fragen von Menschen, die bereits ein großes Fachwissen mitbringen. Und dann geht es eben um Informationen zu Themen, die aktuell diskutiert werden oder um sehr spezielle Informationen zu einem Problem, an dem gerade gearbeitet wird. Aber ja natürlich: Am Ende des Tages profitieren alle davon und letztlich profitiert auch das Design von diesen thematischen Wellen, die immer wieder stattfinden.
Aber auch davon, dass viel Designliteratur nicht veraltet. Das ist auch etwas, das anders ist als in anderen Disziplinen. Bei den ganzen Naturwissenschaften und technischen Disziplinen ist natürlich klar, dass es immer neue Entwicklungen gibt. Aber ich sehe im Design, dass es Literatur oder Texte gibt, die 50 Jahre alt oder älter sind, und du kannst sie heute lesen und sie sind immer noch relevant. Victor Papanek ist so ein Beispiel, sein berühmtes Buch „Design for the Real World“, das 1974 auf Deutsch erschienen ist. Das leg ich heute gerne jungen Studierenden hin, die sich mit dem Thema Nachhaltigkeit beschäftigen und dann fangen die an zu lesen und sagen: „Frau Aszmoneit, was ist das denn?! Da ist alles schon gesagt!“ Da gibt es immer wieder Texte und Themen, zu denen schon Vieles gesagt worden ist. Und selbst bei den „Bilderbüchern“, die einzelne Produkte abbilden, seien es Zeichnungen, seien es Möbel oder Haushaltswaren oder Messestände, was auch immer, Ausstellungsgestaltung… Da sind Abbildungen drin von Entwürfen, die 50 Jahre alt sind oder älter. Die guckst du dir an und denkst: „Wow, ist das modern!“ oder „Das könnte man heute benutzen und das ist heute noch genauso schön, interessant oder attraktiv!“ Also der Band „Achille Castiglioni – Complete Works“, 2002 erschienen, der ist ein super Beispiel. Das ist ein dicker Wälzer, in den schaust du rein und die Entwürfe sind so modern oder sagen wir „immer wieder modern“. Auch diese „alten Sachen“ haben immer noch einen Informationsgehalt und eine Relevanz, die du ins Heute tragen kannst und das finde ich an Designliteratur das Interessante und das wirklich Spannende, vor allem für diejenigen, die daraus dann für das Design von heute und morgen etwas mitnehmen.
Carl: Wo sich natürlich ein wenig die Frage eines Kanons stellt – so schwierig und viel diskutiert dieser Begriff auch ist. Es gibt Bände, die einfach Bestand haben, auf die man immer wieder zurückkommt, die etwas Zeitloses haben. Was natürlich auch ein abgegriffenes Wort ist. Aber es gibt eben Bände, die ihren Wert über die Zeit nicht verlieren, sondern deren Gehalt sich sogar zunehmend entwickelt.
Helge: Auch da kann man den Begriff – der ist zwar auch schon abgedroschen, aber egal – des Nachhaltigen anbringen. Diese Publikationen sind nachhaltig. Klar, es gibt auch Publikationen, die sind nicht nachhaltig, weil sie von vornherein schlecht gemacht sind oder schon zur Zeit ihrer Publikation überflüssig waren, aber es gibt eben viele, die nachhaltig sind. Trotzdem lässt sich ein Kanon da ganz sicher nicht einfach ableiten. Dafür ist die Disziplin der Gestaltung zu vielfältig. Bei solchen Sammlungen geht es natürlich auch immer um Interessen. Wenn mich jemand nach Design und Wirtschaft fragt, ist das etwas anderes, als wenn mich jemand nach Designtheorie fragt. Und es kommt natürlich immer darauf an, wer etwas empfiehlt. Alle, die sich mit Design beschäftigen, haben Lieblingsbücher. Ich denke, euch geht das auch so. Ihr könntet auch einen Kanon zusammenstellen und sagen: „Das und das, das finde ich, sollten alle Designer:innen kennen, weil ich das für relevant halte.“ Ich kann das machen, das können natürlich alle Designer:innen machen, das können alle Hochschullehrer:innen aus dem Design machen, alle, die sich irgendwie intensiver mit Design beschäftigen – und dieser Kanon wird immer anders aussehen.
Und es sollten auch alle, die mit Gestaltung zu tun haben, im Kopf haben, was für sie die fünf oder zehn relevantesten Bücher sind.
Und natürlich hat er auch immer etwas mit der Zeit zu tun, in der man lebt! Weil ich auf ganz andere Literatur zurückgreifen kann als jemand, der vor 50 Jahren gelebt hat und weniger Designbücher zur Verfügung hatte als ich heute. Das alles muss man immer mitbedenken. Aber deshalb finde ich es schon gut über so einen Kanon nachzudenken. Und es sollten auch alle, die mit Gestaltung zu tun haben, im Kopf haben, was für sie die fünf oder zehn relevantesten Bücher sind. Aber man sollte sich auch die Möglichkeit lassen seinen Kanon anzupassen, wenn etwas Neues kommt, was wirklich nochmal gut ist. Ich denke es ist gut, wenn sich dieser Kanon auch verändert. Denn es kommt immer auch drauf an, mit welchen Themen wir uns gerade beschäftigen, was gerade relevant ist im Design, was diskutiert wird. So, und im Moment wird Nachhaltigkeit diskutiert, da gibt es ganz viel dazu. Da gibt es so viel Literatur dazu, dass man das kaum auf einen Kanon runterbrechen kann. Ich habe vor einem knappen Jahr eine Zusammenstellung gemacht, eine Auswahlbibliografie zum Thema nachhaltiges Design. Ich habe mir so schrecklich schwer getan damit! Es war wirklich ein Problem, die auf 50 Titel zu begrenzen und 50 ist schon viel!
Der Kanon basiert auf einer persönlichen Haltung zur Gestaltung selbst: Was ist mir wichtig, wenn ich so etwas zusammenstelle? Und wer will da die Deutungshoheit haben?
Oder zu Zeiten, als es um dieses ganze Thema neue Materialien ging. Da geht es dann um etwas anderes, um Informationsfülle, um die Abbildungsqualität, wie das Buch gemacht ist. Bei so einem Thema spielen ganz andere Dinge eine Rolle. Wie gut werden diese Materialien dargestellt, welche Informationen bekomme ich, wie kann ich über das Medium Buch auf meine Fragen dazu zugreifen – Stichwort Index – wie kann ich damit weiterarbeiten? Das Thema war sehr praxisorientiert, deutlich praxisorientierter als andere Themen. Und zu dieser Zeit gab es kaum digitale Medien, über die ich mir Informationen und Wissen aneignen konnte.
Sabeth: Wobei ich mir persönlich schon die Frage stelle, ob ich dann nicht den Impuls hätte, da auch Bücher einzufügen wie Zygmunt Baumans „Flüchtige Moderne“. Als Anregung zum Reflektieren: In welcher Welt leben wir eigentlich? Gestalter:innen gestalten Umwelt, was müssen sie bedenken, wenn sie an die Arbeit gehen? Und dann wird es plötzlich ganz „unpraktisch“.
Helge: Das ist das Wesentliche dabei. Der Kanon basiert auf einer persönlichen Haltung zur Gestaltung selbst: Was ist mir wichtig, wenn ich so etwas zusammenstelle? Und wer will da die Deutungshoheit haben? Die hat dann nur jeder selbst und das finde ich eigentlich auch ganz gut. Das würde mich dann tatsächlich interessieren: Was ist 2022 der jeweilige Kanon von 10 verschiedenen Designer:innen oder Menschen aus dem Design? Damit würde ich genau über dieses Buch → „100 Bücher, die alle Designer kennen sollten“ hinausgehen, weil da die Fragestellung noch mal eine ganz andere ist. Denn dann geht es nicht mehr um das einzelne Buch, sondern – wie du gerade ganz richtig gesagt hast – darum, was ich anderen eigentlich über so einen Kanon mitgeben möchte. Das, was dir selbst wichtig ist, möchtest du anderen ja darüber mitteilen. Und das ist das Wichtige bei einem Kanon, aber auch im Design.
Sabeth: Aber könnte man nicht auch eine Sammlung aus diesen ewigen Büchern zusammenstellen? Aus dem Victor Papanek, aus „Design ist unsichtbar“… Aus diesen „guten alten“ Büchern, nur dass alt nicht veraltet bedeutet, sondern bewährt.
Helge: Das finde ich eigentlich eine ganz schöne Formulierung, „die ewigen Bücher“ oder auch „die ewigen Texte“, denken wir durchaus mal kleinteiliger. Die, die in der Szene bekannt sind, die tatsächlich auch über Generationen weitergetragen werden. Da ist natürlich „Design ist unsichtbar“ von Lucius Burckhardt oder der Papanek oder auch „Die Herrschaft der Mechanisierung“ von Sigfried Giedion dabei. Sowas gehört dann natürlich dazu. Das finde ich vielleicht sogar den besseren Ausdruck und die bessere Herangehensweise als den Begriff des Kanons. Der Kanon trägt etwas von Gültigkeit mit sich herum und ich glaube im Design ist nicht immer alles gültig. Da wird immer wieder etwas umgeworfen, Gültigkeit wird auch immer wieder infrage gestellt und neue Dinge werden gültig.
Carl: Heutige Bücher können aber eben auch erst in 50 Jahren „ewig“ werden, oder sie sind bis dahin vergessen. Die Frage ist, wer wird dann zu einer Art Fixpunkt, an dem man sich immer wieder abarbeiten kann und der die Fläche für immer wieder erneute Diskurse bietet? Also geht es eher darum, welche Bücher eigentlich überdauern.
Helge: Wenn sie überdauern, dann weil sie eine Gültigkeit haben, die – bleiben wir mal bei den Beispielen – mindestens zwei oder drei Dekaden überstanden hat. Daran werden sich natürlich aktuelle Publikationen erst in 30 Jahren messen lassen können, bringt man aktuelle Publikationen in die Liste ein, müssen sie sich bewähren und damit rechnen, dass sie dann doch wieder verworfen werden. Aber trotzdem gefällt mir diese Idee der ewigen Bücher, weil sie genau das widerspiegelt, was ich gesagt habe: Es gibt einfach Publikationen im Design, die veralten nicht. Sie sind auch heute noch genauso relevant, wie vor 30 oder 50 Jahren und wenn wir Glück haben, halten sie nochmal 30 Jahre, das weiß ich jetzt nicht.
Carl: In diesem Sinne sollten wir vielleicht langsam zum Ende kommen, bevor auch wir hier veralten. (alle lachen) Wie runden wir das Gespräch nun ab?
Sabeth: Vielleicht, indem du deinen Blick auf das Design preisgibst und uns einen Kanon aus deiner Perspektive zusammenstellst?
Helge: Sehr gerne, aber nicht jetzt sofort. (lacht) Wie viele dürfen es sein?
Carl: Mit 10 Stück wären wir schon zufrieden.
Die Zusammenstellung von Helge Aszmoneits 10 Büchern folgt bald.
BODY OF KNOWLEDGE
Im Interview genannte Bücher
Marktfaktor Design. Grundlagen für die Marketingpraxis
Ludwig G. Poth, Richard Bachinger, 1986
Design for the Real World
Victor Papanek, 1974
Achille Castiglioni: Complete Works
Sergio Polano, 2002
Flüchtige Moderne
Zygmunt Bauman, 1999
100 Bücher, die alle Designer kennen sollten
René Spitz, Marcel Trauzenberg, 2019
Design ist unsichtbar
Lucius Burckhardt, 1980
Die Herrschaft der Mechanisierung
Sigfried Giedion, 1994
Interview mit Helge Aszmoneit
Über
Designliteratur
Fragen: Carl Friedrich Then, Sabeth Wiese, Franziska Porsch
FEB 2022
Die Recherche ist der Ausgangspunkt für jede Gestaltungsaufgabe, jeden Auftrag, jede wissenschaftliche oder gestalterische Arbeit. Doch dafür geeignete Literatur zu finden, ist oft erstaunlich schwer: Manchmal findet man eine Fülle an Büchern, die aber leider nicht gerade von einer Aura wissenschaftlicher Fundiertheit umgeben sind, manchmal findet man nichts. Was bleibt, ist das frustrierende Gefühl, nicht richtig gesucht zu haben. Oder die ungläubige Frage: Gibt es einfach keine Literatur zu dem Thema?
Anlass genug, mit Helge Aszmoneit über das Phänomen Designliteratur zu sprechen. Sie ist seit über 30 Jahren die „Hüterin“ der → stiftungseigenen Bibliothek des Rat für Formgebung in Frankfurt. Dort betreut sie den Bibliotheksbestand und hat als Beraterin für Designer:innen auf der Suche nach geeigneter Literatur einen Ruf, der ihr weit vorauseilt.
In unserer 4-köpfigen Runde haben wir darüber gesprochen, was sich eigentlich als Designliteratur qualifiziert, wo man sie findet, wen sie interessiert und welche Bücher das Potenzial haben, zu „ewigen Büchern“ werden.
Carl Friedrich Then: Ja liebe Helge, beginnen wir doch mal direkt mit der 100.000-Euro-Frage: Was ist eigentlich Designliteratur für dich?
Helge Aszmoneit: (lacht) Hab’ ich einen Telefonjoker? Was eigentlich Designliteratur für mich ist, das ist natürlich eine gute Frage… Ja, das ist das, wo Design draufsteht und auch drinsteht, sollte man meinen. Allerdings auch nicht immer, weil der Begriff Design in anderen Kontexten auch eine ganz andere Bedeutung hat, also nichts mit dem Design oder mit der Gestaltung zu tun hat, über die wir hier sprechen wollen. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen: Da muss man vorsichtig sein. In meinen Anfängen hatte ich auch mal ganz böse Fehlschüsse bei Käufen für die Bibliothek, weil der Titel so toll klang. Das war dann aber irgendetwas Mathematisches, Design hat ja gerade im Englischen viele Bedeutungen…
Es gibt immer noch genügend Menschen, die denken, es geht ohne. Mag sein, dass es ohne geht, aber ich denke mit geht es besser. Und gezielter!
Aber grundsätzlich könnte man sagen, dass Designliteratur alles das ist, was sich mit Gestaltung beschäftigt. Da sollte man nicht so streng sein. Vom Format her kann es erstmal egal sein, ob es von mir sogenannte „Bilderbücher“ sind oder eben Textbücher, solange es um jedwede Themen im Bereich der Gestaltung geht. Das ist das eine. Und das andere, das für mich noch wesentlich wichtiger und eigentlich auch viel interessanter ist, womit ich tagtäglich umgehe und was für mich deswegen unglaublich präsent ist, das ist die designrelevante Literatur. Also das, was sich nicht auf den ersten Blick mit Gestaltung beschäftigt, sondern das, was für die Leser:innen je nach Fragestellung relevant ist. Seien es eben technische Publikationen, oder tatsächlich Texte, die aus ganz anderen Bereichen kommen, wie aus der Philosophie, aus der Soziologie, aus den Wirtschaftswissenschaften. Design berührt ja wirklich so viele andere Disziplinen. Das alles ist für mich auch Designliteratur. Daraus entsteht aber natürlich ein Riesenkosmos an Möglichkeiten, was Designliteratur alles sein kann.
Franziska Porsch: Du meinst also, Designliteratur ist das, worauf Designer zum Lösen ihrer gestalterischen Aufgabe zurückgreifen?
Helge: Ja, dabei werden ja unterschiedliche Aspekte relevant, zu denen Gestalter:innen Informationen benötigen. Im besten Fall brauchen und suchen sie diese Informationen in der Literatur. Es gibt immer noch genügend Menschen, die denken, es geht ohne. Mag sein, dass es ohne geht, aber ich denke mit geht es besser. Und gezielter! Aber eine gewisse Vertrautheit mit den Themen, die das Design und das jeweilige „Designproblem“ angehen, sollte schon da sein. Denn du kannst zwar jemandem, der sich bislang nicht mit Wirtschaftswissenschaften beschäftigt hat, das Standardwerk „Marktfaktor Design“ hinlegen, aber wahrscheinlich versteht die Person nur die Hälfte davon, weil ihr das Vorwissen fehlt. Da wird es immer ein bisschen schwierig. Wenn ich gefragt werde: „Haben Sie denn auch noch ein Standardwerk zum Thema Marketing?“, dann sag’ ich: „Nein, hab’ ich leider nicht.“, denn das kann ich in einer Spezialbibliothek für Design einfach nicht abbilden. Und da muss man sich dann entscheiden, ob und wie weit ich gegebenenfalls in das Literaturangebot anderer Disziplinen einsteige.
Carl: Designliteratur findet ja nicht nur im Medium Buch statt. Was sind denn deine über die Jahre gewonnenen Erfahrungen und wie würdest du die verschiedenen Medien charakterisieren? Ist das Buch immer das Nonplusultra?
Helge: Wenn ich an Universitäten Kurse zu Recherche gebe, gehe ich mit den Studierenden zunächst die Medien durch. Ich fange mit dem schnellsten Medium an, das sind natürlich Newsletter, die relativ häufig kommen, die schnell produziert werden, die aber selten eine große Tiefe besitzen. Sie sind oftmals eher oberflächlich. Das würde ich nicht als Literatur bezeichnen, sondern als Informationsquelle. Dann haben wir das Internet in verschiedenen Ausformungen, wie zum Beispiel Blogs. Da gibt es viele interessante Texte, man darf aber nicht vergessen: Bei den ganzen digitalen Medien geht es ganz viel um Geschwindigkeit, um Aktualität. Und damit verbunden ist natürlich auch eine kurze redaktionelle Bearbeitung, eine hohe Fehleranfälligkeit, ein hohes Maß an Irrelevanz und auch an Veraltung. Aber es gibt im Netz durchaus auch digitale Publikationen, die Bestand haben. Die muss man allerdings gezielt suchen. Auf der anderen Seite hat es sich gerade jetzt während Corona gezeigt, dass E-Books einfach ungeheuer wichtig sind, weil Menschen sonst keinen Zugriff auf Informationen für ihre Forschung, für ihre Arbeit gehabt hätten.
Wir kennen das alle: Websites verschwinden, Beiträge von Seiten verschwinden, Newsletter verschwinden sowieso.
Und als nächstes gehe ich dann immer gerne zu den Zeitschriften, die einen deutlich längeren Zyklus haben. Zeitschriften haben eine Redaktion, die einen anderen Fokus legen kann, mit etwas mehr Zeit zum Recherchieren, weil ganz anders geplant werden kann, weil es nicht um Schnelligkeit geht, sondern um Relevanz.
Und dann kommen irgendwann die Bücher und das Buch ist definitiv das langsamste Medium. Ihr wisst es wahrscheinlich auch: Von der Idee bis zum Regal ein Jahr – und das ist schnell! Aber es gibt eben auch die Möglichkeit zu sagen, ich nehme mir die Zeit für ein Buch, recherchiere intensiver, kann mich auf ganz andere Quellen beziehen, kann da auch noch mal eine ganz andere Form der Bildredaktion betreiben, kann Indizes erstellen… Und das Buch hat noch einen wesentlichen Vorteil: Es ist haltbarer.
Carl: Und man könnte sagen, dort findet sich – idealerweise – die verdichtetste Form von Wissen, weil wesentlich mehr Zeit und Arbeit eingeflossen ist. Aber auch die Schwelle ist natürlich viel höher. Wenn ich ein Buch schreibe, hängt viel mehr Arbeit dran als an einem Newsletter oder an einem Beitrag für eine Website.
Helge: Genau! Deshalb ist das Buch haltbarer. Wir kennen das alle: Websites verschwinden, Beiträge von Seiten verschwinden, Newsletter verschwinden sowieso. Man findet das dann irgendwann nicht mehr wieder, aber das Buch und die Zeitschrift verschwinden nicht. Sie bleiben erhalten, dafür sorgen Bibliotheken.
Carl: Meine nächste Frage hängt auch mit dem zusammen, was uns motiviert hat, dieses Interview zu führen. Wo findet man eigentlich Designliteratur, wenn sie einmal in der Welt ist? Wir haben oft den Eindruck gar nicht so genau zu wissen, wo man eigentlich suchen soll. An welchen Orten findet das statt, das Sammeln, Organisieren und Bereitstellen von physischer Designliteratur?
Helge: Also einerseits findet das natürlich in Verlagen statt, ohne die wird meistens kein Buch verlegt. Aber wo bleiben sie danach? Entweder bei Menschen privat zu Hause, aber das ist natürlich kostspielig und für nicht so viele Leute zugänglich. Oder man geht halt dahin, wo Literatur tatsächlich gesammelt wird, also wo physische und inzwischen natürlich auch digitale Literatur gespeichert wird, das heißt Bibliotheken. Und da gibt es viele Möglichkeiten. Natürlich gibt es Designliteratur in vielen Stadtbibliotheken. Nicht in der Konzentration, wie es sie in einer Unibibliothek gibt und schon gar nicht in der Konzentration, wie es sie in einer auf Design spezialisierten Bibliothek wie in einer Hochschule, in Institutionen oder in Museen gibt. Diese Struktur muss ich durchschauen, um zu verstehen, wo ich suchen muss.
Carl: Aber so richtig sichtbar ist Design dort ja nicht. Man muss schon richtig suchen und die OPACs der Bibliotheken sind nun bei Weitem kein Ausbund an Nutzerfreundlichkeit. In den Literaturwissenschaften zum Beispiel finde ich es wesentlich einfacher an Literatur zu kommen. Es gibt an fast jeder Universität literaturwissenschaftliche Institute mit deren Institutsbibliotheken, in denen relevante Literatur gesammelt wird. Design wird an den großen Universitäten nicht oder kaum gelehrt. Aber viel deutlicher wird es ja, wenn man sich mal die bibliothekarischen Klassifikationen anschaut, die für die Erschließung und Organisation von Beständen herangezogen werden. Design hat hier keine eigene Systemstelle, sondern ist oft einfach nur eine Unterkategorie bei Kunstgewerbe oder Kunstgeschichte.
Helge: Das hängt damit zusammen, dass Design eben noch eine recht junge Disziplin ist. In den Klassifikationen bildet sich das sehr unterschiedlich ab, aber das ist ein sehr spezielles und tatsächlich abendfüllendes Thema. An Designhochschulen oder auch speziellen Designbibliotheken ist das natürlich anders, dort sind die Klassifikationen und Systematiken konkret auf den Bedarf der Lehrinhalte ausgerichtet. Solche Systematiken werden dann aber von diesen Bibliotheken selbst erstellt. Wobei ich mir manchmal gar nicht so sicher bin, wie viele Designstudierende überhaupt die hochschuleigenen Bibliotheken besuchen. Ich gebe ja seit Jahren Seminare zur Recherche im Design und ich bin manchmal echt erstaunt, wie wenig Studierende in die Bibliothek gehen. Es gibt aber auch Designhochschulen, da wird die Bibliotheksnutzung kultiviert, das hat immer unmittelbar etwas mit den Hochschulen zu tun.
Carl: Aber außerhalb von Designhochschulen findet das konsequente Sammeln von Designliteratur eher weniger statt, oder?
Helge: Naja, das stimmt so nicht ganz! Die Universitätsbibliotheken sind schon auch sogenannte Universalbibliotheken, die sich aber natürlich an den Fachbereichen und Studieninhalten der eigenen Hochschule orientieren. Das ist schon richtig. Aber nichtsdestotrotz gibt es auch da immer wieder Literatur zum Thema Gestaltung. Eigentlich nicht verwunderlich, da Design so viele andere Disziplinen berührt. Man findet die Designliteratur aber dann nicht an einem Ort oder Regal, sondern dort, wo sie thematisch zugeordnet wird.
Das hängt tatsächlich davon ab, welche Themen gerade ganz angesagt sind und entsprechend – da muss ich jetzt ein bisschen vorsichtig sein, ich will nicht sagen kapern – aber belegen doch bestimmte Disziplinen dann die Publikationswelt.
Denn am Ende hängt der Bestand einer Bibliothek eben von der Sammlungsmotivation ab. Die hängt natürlich mit Studiengängen zusammen, dann hängt die mit den Professor:innen zusammen, was die Leute dort unterrichten, welche Interessen sie haben, welche Schwerpunkte sie setzen, ob Semesterapparate benötigt werden. Da gibt es ganz viele Faktoren, die dazu führen, dass Literatur in den Bestand eingeht, die sehr speziell ist, obwohl es dort nicht den „passenden Studiengang“ gibt. Gleiches gilt übrigens auch für Designbibliotheken in Institutionen und Museen: solche Bestände werden geprägt von den Forschungs- oder Ausstellungthemen, den Institutsleitungen, den Mitarbeiter:innen und auch von den Bibliothekar:innen.
Sabeth Wiese: Aber wie würdest du sagen, wird Design dann abgebildet? Wir hatten eben das Beispiel der Stadtbibliothek. Welche Form von Designliteratur ist dort vertreten? Sind es dann eher die „Bilderbücher“ oder die „100 Entwürfe von Philippe Starck“. Welche Formate sind es?
Helge: Ja, das dürften eher die – ich sage das mal, ohne es abzuwerten zu wollen – populären Dinge sein, für die sich Menschen privat interessieren, ohne einen beruflichen Hintergrund zu haben. Aber ich weiß, dass es hier in der Stadtbücherei Frankfurt auch viel zu Grundlagen gibt: Wie gestalte ich eine Website? Wie gestalte ich ein Logo? Was ist Grafikdesign? Also angewandte Themen, mit denen man gerade auch junge Menschen kriegen kann, die da plötzlich ein Interesse entwickeln und dann mal in die Stadtbücherei gehen, weil sie einfach nicht wissen können, dass es Spezialbibliotheken gibt und was dort vorhanden ist. Müssen sie auch nicht! Eine öffentliche Bibliothek bedient diese Bedürfnisse unkompliziert und direkt. Aber es gibt in öffentlichen Bibliotheken auch viel Grundlagenliteratur zu Design oder Designgeschichte, dort steht mehr, als man vermutet.
Sabeth: Es gibt ja auch ganz viel Literatur zu so Themen wie „Design für CEOs“, „Warum ist Design wichtig?“ und natürlich zu Design Thinking… Diese Bücher richten sich ja gar nicht an Designer:innen. Deswegen frage ich mich immer: Wo findet diese Literatur eigentlich statt, wo tritt sie auf und zwar jenseits des Internets?
Helge: Ja, Design Thinking ist halt so ein Buzzword geworden. Aber es ist eigentlich ein ganz gutes Beispiel: Das findet sehr viel bei den Wirtschaftswissenschaften und bei der Wirtschaftspsychologie statt. Denn das sind angewandte Dinge, um im Management und im Marketing etwas Innovatives zu machen, warum auch nicht. Das findet aber tatsächlich nicht so sehr in Spezialbibliotheken für Design statt. Also wir haben, glaube ich, nur eine Handvoll Bücher zu Design Thinking und ich werde dazu auch nur ganz selten gefragt. Das interessiert ja Designer:innen auch nicht, sie praktizieren es ja.
Franziska: Eine spannende Frage ist doch dann, wer eigentlich über und zum Design publiziert und warum. Mir scheint, da gibt es zu bestimmten Zeiten verschiedene Cluster und Peaks.
Helge: Ja, da entstehen Peaks, Höhepunkte. Das hängt tatsächlich davon ab, welche Themen gerade ganz angesagt sind und entsprechend – da muss ich jetzt ein bisschen vorsichtig sein, ich will nicht sagen kapern – aber belegen doch bestimmte Disziplinen dann die Publikationswelt. Im Moment sind es die Philosophen. Das ist der Wahnsinn, was da gerade publiziert wird. Das hängt natürlich auch damit zusammen, dass so viele Designhochschulen das Promotionsrecht bekommen haben. Da wird sehr viel zu Designtheorie gearbeitet und geforscht und grundsätzlich sind Theoretiker:innen aller Disziplinen schon sehr daran interessiert, dass ihre Forschungen publiziert werden und damit in die Debatten einfließen.
Carl: Wenn man bei dir in der Bibliothek die Regale abläuft, fällt auf, dass zu einer gewissen Zeit sehr viele Monografien zu einzelnen Designer:innen erschienen sind.
Helge: Ja, das war mal eine Zeitlang durchaus populär, auch wenn das Werk dieser Designer:in zu dem Zeitpunkt noch gar nicht so umfangreich war. Was da der Treiber dieses Trends war, ist mir bis heute nicht so ganz klar. Ob es der Wunsch der Designer:innen war, ein Buch über sich zu haben, um dem eigenen Werk mehr Gewicht zu verleihen oder ob das von den Verlagen ausging, die in diesen Designermonografien besonders viel ökonomisches Potential gesehen haben.
Und es gab eine Zeit, da wurden auch zu vielen historischen Gestalter:innen Monografien oder Ausstellungskataloge publiziert, das ist natürlich für den Erhalt und die Vermittlung der Designgeschichte relevant und da sind manche Forschungen noch gar nicht abgeschlossen.
Also das Design lebt sicherlich auch davon, dass es in so viele Disziplinen hineinragt, dass es viele andere Disziplinen unterstützen kann, sie selber aber auch nutzen kann.
Aber in den 1990er-Jahren war dann insbesondere Designmanagement angesagt. Es gab eine Menge Wirtschaftswissenschaftler:innen, die dazu publiziert haben. Das heißt, da hat die Disziplin der Wirtschaftswissenschaften das Thema Design besetzt. Bionik war zum Beispiel auch mal ein ganz großes Thema Ende der 1990er-, Anfang der 2000er-Jahre, neue Materialien waren auch mal ein ganz großes Thema, das war auch so um die Jahrtausendwende, unfassbar, was da alles erschienen ist. Und solche Wellen kannst du meistens in Phasen von 5 bis 10 Jahren einordnen. 10 Jahre, das ist schon sehr lange, aber 5 Jahre dürften es im Durchschnitt sein.
Franziska: Ich frage mich an der Stelle, ob man eine These darüber aufstellen kann, was das mit der Bedeutung oder auch Deutung von Design macht. Wer publiziert in welcher Art und Weise über Design oder zu Design? Und was heißt das, wenn andere Disziplinen das Thema „kapern“? Wer hat dann die Deutungsmacht über die Designdisziplin?
Helge: Jaaa … (atmet lange aus) Das ist eine gute Frage. Also das Design lebt sicherlich auch davon, dass es in so viele Disziplinen hineinragt, dass es viele andere Disziplinen unterstützen kann, sie selber aber auch nutzen kann. Das ist schon sehr besonders, denke ich, am Design. Und die Deutungshoheit, die wandelt sich eben immer. Man muss sich eigentlich viel eher die Frage stellen, warum es solche Erscheinungen wie bestimmte Peaks gibt, die da sind: Designmanagement, Corporate Design, Corporate Architecture. Irgendwann hieß alles nur noch Corporate. Jetzt gerade ist es Transformation und Nachhaltigkeit! Wer treibt das eigentlich, treibt die Disziplin? Wer ist eigentlich der Treiber dafür, dass plötzlich ein Thema so eine Relevanz bekommt? Das Thema Designmanagement in den 1990er-Jahren bis zur Jahrtausendwende, es war unglaublich, was da alles erschienen ist. Und ich habe dann irgendwann mal unsere Bestände angeguckt und gedacht: „Das ist ja interessant. Ja, da ist in einem Londoner Verlag zum Thema Designmanagement – ich glaube es war von Ende der 1940er – publiziert worden.“ Da denke ich: „Jo! Die haben da schon mal drüber gesprochen und nachgedacht. Ohne Zweifel wird sehr viel an Erkenntnissen und Erfahrungen dazu gekommen sein, manches wird sich gewandelt haben, aber über einiges wird man in den 40ern schon so nachgedacht haben wie heute.“
Aber ich sehe im Design, dass es Literatur oder Texte gibt, die 50 Jahre alt oder älter sind, und du kannst sie heute lesen und sie sind immer noch relevant.
Aber wie kommt es überhaupt, dass bestimmte Themen so an die Oberfläche „gespült“ und in der Disziplin heftig diskutiert werden? Da gibt es natürlich Menschen mit Antennen, die genau das erkennen und Themen für sich und sicherlich auch für andere entdecken und darüber informieren und kommunizieren wollen. Das geht immer noch sehr gut über Literatur, egal ob analog oder digital.
Franziska: Man könnte ja auch behaupten, dass das Design davon profitiert. Denn zumindest wird es durch das Zutun Anderer publik, auch wenn natürlich die Gefahr besteht, dass es falsch kommuniziert oder missverstanden wird. Genauso wie du nur wenige Bücher zu Design Thinking in der Bibliothek hast, weil es mit dem Verständnis von Design, so wie wir es auch in dieser Runde teilen, wenig zu tun hat.
Helge: Ja, wenn du in einer Spezialbibliothek arbeitest, dann sind die meisten Anfragen sehr spezielle Fragen von Menschen, die bereits ein großes Fachwissen mitbringen. Und dann geht es eben um Informationen zu Themen, die aktuell diskutiert werden oder um sehr spezielle Informationen zu einem Problem, an dem gerade gearbeitet wird. Aber ja natürlich: Am Ende des Tages profitieren alle davon und letztlich profitiert auch das Design von diesen thematischen Wellen, die immer wieder stattfinden.
Aber auch davon, dass viel Designliteratur nicht veraltet. Das ist auch etwas, das anders ist als in anderen Disziplinen. Bei den ganzen Naturwissenschaften und technischen Disziplinen ist natürlich klar, dass es immer neue Entwicklungen gibt. Aber ich sehe im Design, dass es Literatur oder Texte gibt, die 50 Jahre alt oder älter sind, und du kannst sie heute lesen und sie sind immer noch relevant. Victor Papanek ist so ein Beispiel, sein berühmtes Buch „Design for the Real World“, das 1974 auf Deutsch erschienen ist. Das leg ich heute gerne jungen Studierenden hin, die sich mit dem Thema Nachhaltigkeit beschäftigen und dann fangen die an zu lesen und sagen: „Frau Aszmoneit, was ist das denn?! Da ist alles schon gesagt!“ Da gibt es immer wieder Texte und Themen, zu denen schon Vieles gesagt worden ist. Und selbst bei den „Bilderbüchern“, die einzelne Produkte abbilden, seien es Zeichnungen, seien es Möbel oder Haushaltswaren oder Messestände, was auch immer, Ausstellungsgestaltung… Da sind Abbildungen drin von Entwürfen, die 50 Jahre alt sind oder älter. Die guckst du dir an und denkst: „Wow, ist das modern!“ oder „Das könnte man heute benutzen und das ist heute noch genauso schön, interessant oder attraktiv!“ Also der Band „Achille Castiglioni – Complete Works“, 2002 erschienen, der ist ein super Beispiel. Das ist ein dicker Wälzer, in den schaust du rein und die Entwürfe sind so modern oder sagen wir „immer wieder modern“. Auch diese „alten Sachen“ haben immer noch einen Informationsgehalt und eine Relevanz, die du ins Heute tragen kannst und das finde ich an Designliteratur das Interessante und das wirklich Spannende, vor allem für diejenigen, die daraus dann für das Design von heute und morgen etwas mitnehmen.
Carl: Wo sich natürlich ein wenig die Frage eines Kanons stellt – so schwierig und viel diskutiert dieser Begriff auch ist. Es gibt Bände, die einfach Bestand haben, auf die man immer wieder zurückkommt, die etwas Zeitloses haben. Was natürlich auch ein abgegriffenes Wort ist. Aber es gibt eben Bände, die ihren Wert über die Zeit nicht verlieren, sondern deren Gehalt sich sogar zunehmend entwickelt.
Helge: Auch da kann man den Begriff – der ist zwar auch schon abgedroschen, aber egal – des Nachhaltigen anbringen. Diese Publikationen sind nachhaltig. Klar, es gibt auch Publikationen, die sind nicht nachhaltig, weil sie von vornherein schlecht gemacht sind oder schon zur Zeit ihrer Publikation überflüssig waren, aber es gibt eben viele, die nachhaltig sind. Trotzdem lässt sich ein Kanon da ganz sicher nicht einfach ableiten. Dafür ist die Disziplin der Gestaltung zu vielfältig. Bei solchen Sammlungen geht es natürlich auch immer um Interessen. Wenn mich jemand nach Design und Wirtschaft fragt, ist das etwas anderes, als wenn mich jemand nach Designtheorie fragt. Und es kommt natürlich immer darauf an, wer etwas empfiehlt. Alle, die sich mit Design beschäftigen, haben Lieblingsbücher. Ich denke, euch geht das auch so. Ihr könntet auch einen Kanon zusammenstellen und sagen: „Das und das, das finde ich, sollten alle Designer:innen kennen, weil ich das für relevant halte.“ Ich kann das machen, das können natürlich alle Designer:innen machen, das können alle Hochschullehrer:innen aus dem Design machen, alle, die sich irgendwie intensiver mit Design beschäftigen – und dieser Kanon wird immer anders aussehen.
Und es sollten auch alle, die mit Gestaltung zu tun haben, im Kopf haben, was für sie die fünf oder zehn relevantesten Bücher sind.
Und natürlich hat er auch immer etwas mit der Zeit zu tun, in der man lebt! Weil ich auf ganz andere Literatur zurückgreifen kann als jemand, der vor 50 Jahren gelebt hat und weniger Designbücher zur Verfügung hatte als ich heute. Das alles muss man immer mitbedenken. Aber deshalb finde ich es schon gut über so einen Kanon nachzudenken. Und es sollten auch alle, die mit Gestaltung zu tun haben, im Kopf haben, was für sie die fünf oder zehn relevantesten Bücher sind. Aber man sollte sich auch die Möglichkeit lassen seinen Kanon anzupassen, wenn etwas Neues kommt, was wirklich nochmal gut ist. Ich denke es ist gut, wenn sich dieser Kanon auch verändert. Denn es kommt immer auch drauf an, mit welchen Themen wir uns gerade beschäftigen, was gerade relevant ist im Design, was diskutiert wird. So, und im Moment wird Nachhaltigkeit diskutiert, da gibt es ganz viel dazu. Da gibt es so viel Literatur dazu, dass man das kaum auf einen Kanon runterbrechen kann. Ich habe vor einem knappen Jahr eine Zusammenstellung gemacht, eine Auswahlbibliografie zum Thema nachhaltiges Design. Ich habe mir so schrecklich schwer getan damit! Es war wirklich ein Problem, die auf 50 Titel zu begrenzen und 50 ist schon viel!
Der Kanon basiert auf einer persönlichen Haltung zur Gestaltung selbst: Was ist mir wichtig, wenn ich so etwas zusammenstelle? Und wer will da die Deutungshoheit haben?
Oder zu Zeiten, als es um dieses ganze Thema neue Materialien ging. Da geht es dann um etwas anderes, um Informationsfülle, um die Abbildungsqualität, wie das Buch gemacht ist. Bei so einem Thema spielen ganz andere Dinge eine Rolle. Wie gut werden diese Materialien dargestellt, welche Informationen bekomme ich, wie kann ich über das Medium Buch auf meine Fragen dazu zugreifen – Stichwort Index – wie kann ich damit weiterarbeiten? Das Thema war sehr praxisorientiert, deutlich praxisorientierter als andere Themen. Und zu dieser Zeit gab es kaum digitale Medien, über die ich mir Informationen und Wissen aneignen konnte.
Sabeth: Wobei ich mir persönlich schon die Frage stelle, ob ich dann nicht den Impuls hätte, da auch Bücher einzufügen wie Zygmunt Baumans „Flüchtige Moderne“. Als Anregung zum Reflektieren: In welcher Welt leben wir eigentlich? Gestalter:innen gestalten Umwelt, was müssen sie bedenken, wenn sie an die Arbeit gehen? Und dann wird es plötzlich ganz „unpraktisch“.
Helge: Das ist das Wesentliche dabei. Der Kanon basiert auf einer persönlichen Haltung zur Gestaltung selbst: Was ist mir wichtig, wenn ich so etwas zusammenstelle? Und wer will da die Deutungshoheit haben? Die hat dann nur jeder selbst und das finde ich eigentlich auch ganz gut. Das würde mich dann tatsächlich interessieren: Was ist 2022 der jeweilige Kanon von 10 verschiedenen Designer:innen oder Menschen aus dem Design? Damit würde ich genau über dieses Buch → „100 Bücher, die alle Designer kennen sollten“ hinausgehen, weil da die Fragestellung noch mal eine ganz andere ist. Denn dann geht es nicht mehr um das einzelne Buch, sondern – wie du gerade ganz richtig gesagt hast – darum, was ich anderen eigentlich über so einen Kanon mitgeben möchte. Das, was dir selbst wichtig ist, möchtest du anderen ja darüber mitteilen. Und das ist das Wichtige bei einem Kanon, aber auch im Design.
Sabeth: Aber könnte man nicht auch eine Sammlung aus diesen ewigen Büchern zusammenstellen? Aus dem Victor Papanek, aus „Design ist unsichtbar“… Aus diesen „guten alten“ Büchern, nur dass alt nicht veraltet bedeutet, sondern bewährt.
Helge: Das finde ich eigentlich eine ganz schöne Formulierung, „die ewigen Bücher“ oder auch „die ewigen Texte“, denken wir durchaus mal kleinteiliger. Die, die in der Szene bekannt sind, die tatsächlich auch über Generationen weitergetragen werden. Da ist natürlich „Design ist unsichtbar“ von Lucius Burckhardt oder der Papanek oder auch „Die Herrschaft der Mechanisierung“ von Sigfried Giedion dabei. Sowas gehört dann natürlich dazu. Das finde ich vielleicht sogar den besseren Ausdruck und die bessere Herangehensweise als den Begriff des Kanons. Der Kanon trägt etwas von Gültigkeit mit sich herum und ich glaube im Design ist nicht immer alles gültig. Da wird immer wieder etwas umgeworfen, Gültigkeit wird auch immer wieder infrage gestellt und neue Dinge werden gültig.
Carl: Heutige Bücher können aber eben auch erst in 50 Jahren „ewig“ werden, oder sie sind bis dahin vergessen. Die Frage ist, wer wird dann zu einer Art Fixpunkt, an dem man sich immer wieder abarbeiten kann und der die Fläche für immer wieder erneute Diskurse bietet? Also geht es eher darum, welche Bücher eigentlich überdauern.
Helge: Wenn sie überdauern, dann weil sie eine Gültigkeit haben, die – bleiben wir mal bei den Beispielen – mindestens zwei oder drei Dekaden überstanden hat. Daran werden sich natürlich aktuelle Publikationen erst in 30 Jahren messen lassen können, bringt man aktuelle Publikationen in die Liste ein, müssen sie sich bewähren und damit rechnen, dass sie dann doch wieder verworfen werden. Aber trotzdem gefällt mir diese Idee der ewigen Bücher, weil sie genau das widerspiegelt, was ich gesagt habe: Es gibt einfach Publikationen im Design, die veralten nicht. Sie sind auch heute noch genauso relevant, wie vor 30 oder 50 Jahren und wenn wir Glück haben, halten sie nochmal 30 Jahre, das weiß ich jetzt nicht.
Carl: In diesem Sinne sollten wir vielleicht langsam zum Ende kommen, bevor auch wir hier veralten. (alle lachen) Wie runden wir das Gespräch nun ab?
Sabeth: Vielleicht, indem du deinen Blick auf das Design preisgibst und uns einen Kanon aus deiner Perspektive zusammenstellst?
Helge: Sehr gerne, aber nicht jetzt sofort. (lacht) Wie viele dürfen es sein?
Carl: Mit 10 Stück wären wir schon zufrieden.
Die Zusammenstellung von Helge Aszmoneits 10 Büchern folgt bald.
BODY OF KNOWLEDGE
Im Interview genannte Bücher
Marktfaktor Design. Grundlagen für die Marketingpraxis
Ludwig G. Poth, Richard Bachinger, 1986
Design for the Real World
Victor Papanek, 1974
Achille Castiglioni: Complete Works
Sergio Polano, 2002
Flüchtige Moderne
Zygmunt Bauman, 1999
100 Bücher, die alle Designer kennen sollten
René Spitz, Marcel Trauzenberg, 2019
Design ist unsichtbar
Lucius Burckhardt, 1980
Die Herrschaft der Mechanisierung
Sigfried Giedion, 1994
ABOUT US GESTALT ERROR 409
BEOBACHTUNG Erfahrungsbericht VW in Wolfsburg 409
USE »Atemberaubend, oder?« Eine Apple Vision Pro Rezension Jakob Nonnen
ESSAY Extended Creativity: a Human Centered Approach to Working with AI Felix Dölker
USE The Curious Case of the TrackPoint ChatGPT & Sabeth Wiese
INTERVIEW Fünf Fragen zu Bibliothekspflanzen Anne Christensen
INTERVIEW Über Theorie und Praxis Prof. Dr. Felix Kosok
USE Traumreise in die Unterwelt Sabeth Wiese
BEOBACHTUNG Erfahrungsbericht Bauhaus Dessau 409
INTERVIEW Fünf Fragen zu Symbiosis – Living together Carl F. Then
INTERVIEW Five Questions on the University of Brighton Design Archives Sue Breakell
READ Backstage Talks Magazine Sabeth Wiese
ESSAY Zu Design und Utopie. Ein essayistisches Plädoyer Fabio Sacher
PROJEKT About Kreativbranche II: unglitched but shit Sabeth Wiese
PROJEKT Scherben Sammeln? Mudlarking Charlotte Bluhme
INTERVIEW Über die Grenzen des Designs Constanze Buckenlei und Marco Kellhammer
BEOBACHTUNG Eva Illouz und die Wurzeln der Experience Sabeth Wiese
ESSAY The Rise of Designforschung – Goodbye Autorendesign? Carl F. Then
USE DB, warum lässt du mich so sitzen? Sabeth Wiese
ESSAY Crypto Aesthetics Johannes Wilke
USE Der geschenkte Wasserfilter Franziska Porsch
READ Geschichte des Designs Carl F. Then
INTERVIEW About Design at Olivetti Pietro Cesari
USE Liebeserklärung an das Mono A Sabeth Wiese
BEOBACHTUNG Erfahrungsbericht Vitra Campus 409
INTERVIEW Fünf Fragen zu Hans "Nick" Roerichts Archiv Viktoria Lea Heinrich
ESSAY Gendered Embodiment through Designed Objects Anis Anais Looalian
BEOBACHTUNG Inside BWL Sabeth Wiese
INTERVIEW Fünf Fragen zu Designmanifesten Prof. Dr. Daniel Hornuff
ZITATE Designliteratur in Zitaten 409
PROJEKT GELD GELD GELD Sabeth Wiese
ILLUSTRATION In Design Limbo Pt.2 Mira Schleinig
WATCH Design is [messy] Carl F. Then
PROJEKT Umwandlungen. Gestaltung mit einem Insekt Simon Schmalhorst
INTERVIEW Über Designliteratur Helge Aszmoneit
READ Wie eine Person zu einem Nutzer wurde Franziska Porsch
PROJEKT Glitched about Kreativbranche Sabeth Wiese
ILLLUSTRATION In Design Limbo Pt.1 Mira Schleinig
READ Artificial Intelligence. A Guide for Thinking Humans Carl F. Then
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